Gefährliches Geheimnis
auszudenken.« Sie lächelte impulsiv. »Ich nehme an, Sie wären viel lieber allein, und doch erfordert der Brauch das alles hier.«
Sie wies mit einer Geste auf den Raum voller Menschen, die sich unterhielten, taktvoll nickten, bedeutungsleere Worte murmelten, denen sowieso niemand zuhörte, und Pendreighs ausgezeichneten Wein tranken. Sie trugen alle Schwarz; der einzige Unterschied bestand im Schnitt und im Stoff, mancher war schwerer als der andere, mancher war weicher und exquisiter geschnitten.
Er sah sie einen Augenblick an, als sehe er sie tat- sächlich. Der Bann der Zurückgezogenheit war gebrochen,
und abgrundtiefer Schmerz erfüllte seine Züge. »Eigent- lich bin ich mir nicht sicher«, sagte er leise. »Ich finde, es liegt ein … gewisser Trost darin. Es ist … entsetzlich … und doch ist es womöglich besser, als allein zu sein.«
»Es tut mir Leid!«, entschuldigte sie sich. »Ich hätte nicht so etwas Aufdringliches sagen dürfen. Ich bitte Sie um Verzeihung.«
Das formale Lächeln war wieder da. »Das müssen Sie nicht, Mrs. Monk. Entschuldigen Sie mich bitte, ich muss Mr. und Mrs. Harbinger verabschieden. Sie scheinen gehen zu wollen.« Er zuckte die Schultern, als wisse er nicht, was er sagen sollte, und verschwand mit einer leichten Verbeugung.
Hester drehte sich um, um nach Kristian zu sehen. Sie entdeckte ihn allein an der Tür zum Salon. Sein Gesicht zeigte eine leere, innere Konzentration, die ihn isolierte. Er sah zutiefst verwirrt aus, als hätte er die Pflicht, um deren Erfüllung Pendreigh sich so sehr bemühte, gänzlich aus den Augen verloren.
Eine ältere Frau trat zu ihm, und er rief sich seine Verpflichtung in Erinnerung und zwang sich zu einem Lächeln und ein paar banalen, höflichen Worten.
Eine halbe Stunde später entschuldigten Hester und Monk sich, aber auf dem Heimweg im Hansom überlegte Hester, warum der Empfang im Haus von Elissas Vater stattgefunden hatte und nicht in dem ihres Mannes, wo sie schließlich die letzten zwölf Jahre gelebt hatte, seit sie von Österreich nach London zurückgekehrt war.
»Vielleicht fürchtete Pendreigh, Kristian fühlte sich nicht in der Lage, die Feier durchzustehen«, meinte Monk.
Hester warf ihm einen Blick von der Seite zu, während sie durch die in Nebel eingehüllten Straßen fuhren, durch die gelbgrauen Schwaden, die im Hals kratzten, und
lichtere Stellen, wo das Licht durchbrach und sie das Gitter der schwarzen Äste über sich sehen konnte. Hesters Gesicht war von einer müden Blässe überzogen, und Monk starrte nach vorne, als sei seine Aufmerksamkeit halb nach innen gewandt.
»Hast du eine Ahnung, wer sie umgebracht hat?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete er, ohne sich ihr zuzuwenden.
»Aber du glaubst nicht, dass Runcorn Kristian verdächtigt, oder?«, hakte sie nach.
Der Hansom kam an einer Kreuzung mit einem Ruck zum Stehen und fuhr holpernd wieder an. Die entgegen- kommenden Fahrzeuge waren nur als Schatten in der Dämmerung auszumachen.
»Er muss es in Erwägung ziehen«, antwortete Monk.
»Wir wissen noch nicht, ob der Anschlag Elissa Beck galt, oder ob sie nur eine unglückliche Zeugin war.«
»Was weißt du über die andere Frau?«
»Sehr wenig. Sie hat als Modell gearbeitet, und zwar in den letzten fünf Jahren nur für Allardyce. Sie war Mitte dreißig, für einen solchen Job eigentlich schon ein bisschen zu alt. Runcorn hat ein paar Männer darauf angesetzt, so viel wie möglich über sie herauszufinden – Liebhaber, Leute, denen sie Geld schuldete. Bis jetzt noch nichts von Bedeutung.«
»Aber es ist doch wahrscheinlicher, dass der Anschlag ihr galt und Elissa Beck nur Zeugin war, oder?«
»Vielleicht.«
Hester hätte gerne noch mehr gefragt, aber sie sah die schmale Linie seiner Lippen und wusste, dass weitere Fragen zu nichts führen würden. Sie musste sich fast auf die Zunge beißen, um sie im Zaum zu halten. Sie hatte weder
den Trost noch die Versicherung bekommen, auf die sie ge- hofft hatte. Warum hatte er nicht wenigstens gesagt, wenn Runcorn so dumm sei, Kristian zu verdächtigen, würde er, Monk, ihm beweisen, dass er sich irrte? Sie hätte ihn gerne gefragt, aber sie wollte die Antwort gar nicht hören.
Am späten Nachmittag ging Monk noch einmal aus, ohne zu sagen, wohin. Er trug noch immer seinen besten schwar- zen Anzug, als wäre die Beerdigung noch nicht vorbei.
Hester wartete eine Stunde, während der sie versuchte, einen Entschluss zu fassen. Dann nahm sie, auch sie
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