Gefaehrten der Finsternis
dass ihn kein Traum, kein Trugbild narrte. Er beugte sich über seinen Bruder und lächelte ihn an. »Nein,Ventel, du bist nicht tot, du bist hier bei mir! Ich bin es, Lyannen, dein Bruder, erinnerst du dich? Du wurdest verwundet und es ging dir sehr schlecht, aber das ist jetzt vorbei. Das ist vorbei. Alles ist vorüber.«
Ventel ließ seine Hand immer noch nicht los und schüttelte nun leicht den Kopf. »Nein«, sagte er. »Es hat gerade erst begonnen.
Bald wird es losbrechen, und dann wird es kein Entkommen geben, für niemanden.« Besorgt strich er sich mit einer Hand die Haare aus dem Gesicht, während er sich mit der anderen immer noch an Lyannen festhielt, als ob er fürchtete, ihn jeden Moment zu verlieren. Dann schaute er seinem Bruder ganz tief in die Augen. »Ich habe etwas gesehen«, flüsterte er fast unhörbar. »Ich habe etwas gesehen. Dinge, die ich nicht hätte sehen sollen. Dinge, die man nicht sehen darf. Ich habe sie gesehen … Ich habe in ihre Augen geblickt. Ich habe begriffen, was sie ist. Ich habe begriffen, was wir gar nicht begreifen wollen. Ich habe Dinge gesehen, die wir gar nicht sehen können.« Mit weit aufgerissenen Augen sah er sich um wie ein gehetztes Tier. »Sie … ist überall! Überall. Sie wollen es nicht sehen, sie wollen es nicht begreifen. Aber sie werden es sehen, sie werden es begreifen müssen. Und das ist dann das Ende.Von allem. Dieses Etwas ist nicht von dieser Welt! Es ist … nein, ich kann es nicht sagen. Ich kann es nicht einmal denken! Es... ist kein Sterblicher und auch kein Ewiger! Es ist... die Finsternis selbst!«
Nun ließ er abrupt Lyannens Hand los, sein Kopf sank auf seine Brust, er krümmte sich zusammen und begann, leise vor sich hin zu schluchzen. Lyannen war bestürzt. Er hatte Ventel noch nie zuvor weinen sehen. Als er seine Hand drücken wollte, entzog Ventel sie ihm. Dann schaute er wieder auf und starrte Lyannen mit schreckgeweiteten Augen an. »Ich habe sie gesehen«, sagte er mit bebender Stimme. »Ich bin gestorben. Und dann bin ich zurückgekehrt.«
Lyannen starrte ihn weiter fassungslos an. Er hatte nicht viel von dem verstanden, was Ventel gesagt hatte, doch zumindest hatte er begriffen, dass sein Bruder etwas gesehen haben musste, was ihn völlig aus der Bahn geworfen hatte. Er musste an der Schwelle des Todes gewesen sein und hatte dort wohl etwas erblickt, was nur die Toten sehen können. Aber dann hatte ihn etwas zurückgeholt. Er war zurückgekehrt. Lyannen wusste nicht,
wie das geschehen konnte oder welchen Anteil er selbst daran hatte. Aber eines spürte er deutlich: Nachdem Ventel gestorben und doch wieder zurückgekehrt war, war er nicht mehr derselbe wie früher.
Lyannen betrachtete seinen Bruder eingehend. Ventel hatte aufgehört zu weinen und sich die Tränen getrocknet. Nun presste er die Lippen fest zusammen, ein ernster Ausdruck lag auf seinen edlen Zügen, eine ungekannte Härte ließ sie strenger wirken und ein neues Feuer brachte das Blau seiner Augen zum Leuchten. Lyannen kam sein Bruder auf einmal viel größer, viel weiser, ja auch viel mächtiger vor. Älter. Und auch ferner, unnahbarer, fast wie von einer anderen Welt.
Ventel stand auf. Er bewegte sich mit einer neuen Würde, wirkte nicht mehr offen und freundlich wie früher, sondern entschlossen und unnahbar. »Ich will mich waschen«, sagte er. »Und saubere Kleider. Und außerdem habe ich Hunger.« Er blickte sich um. »Bring mir die Kleider. Ich bin dort hinten am Fluss.«
»Ventel, du bist nicht bewaffnet«, erinnerte ihn Lyannen. »Du kannst doch nicht schutzlos herumlaufen.«
»Du hast recht.« Ventel stimmte ihm mit einem knappen Nicken zu und streckte Lyannen fordernd eine Hand entgegen. »Gib mir mein Schwert.«
Unter den unerbittlichen Blicken seines Bruders hob Lyannen das Schwert vom Boden auf und reichte es ihm.Ventel steckte es in seinen Gürtel, als ob ihm auch diese Bewegung fremd wäre. »Bring mir meinen Reisesack. Ich möchte mich umziehen. Diese Hose und auch den Verband loswerden.«
»Aber das kannst du doch nicht!«, rief Lyannen besorgt aus. »Du bist doch noch verletzt!«
Ventel schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr.«
Lyannen wagte nichts dagegen einzuwenden und reichte ihm den Sack mit seinen Sachen.
Ventel nahm ihn und drehte ihm dann den Rücken zu. »Macht
mir was zu essen«, rief er Lyannen aus einiger Entfernung über die Schulter zu.
Als Lyannen sich umwandte, sah er die fragenden Gesichter der anderen, die ihn mit
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