Gefaehrten der Finsternis
gesagt, dass wir vom selben Blut sind. Also rein körperlich betrachtet, bin ich dein Bruder, so wie er es war. Das Fleisch bleibt dasselbe.Aber die Seele, die hat sich verändert. Keiner kann das erleiden, was ich erlitten habe, was dein Bruder erlitten hat, und sich dabei nicht verändern. Das kannst du nicht verstehen, Lyannen. Niemand kann das, der es nicht selbst erlebt hat. Ich werde für immer von dem gezeichnet sein, was ich erlebt habe. Der, der war, ist verloren. Er wird nicht wiederkehren. Das musst du begreifen.«
»Und wer bist du jetzt?«, sagte Lyannen und konnte nicht verhindern, dass seine Augen feucht wurden. »Du bist nicht mein Bruder, du kannst es nicht sein! Du bist nicht der, den ich geliebt habe! Aber wer bist du dann? Wer?«
Ein trauriger Schatten legte sich über Ventels Augen. »Ich weiß es nicht«, sagte er leise. »Es ist schwer. Schwerer, als du denkst.
Den, den du verloren hast, habe auch ich verloren.« Er presste die Lippen zusammen. »Eines Tages wirst du das verstehen.«
»Aber ich will es nicht verstehen«, flüsterte Lyannen. »Ich will den Ventel zurück, den ich geliebt habe. Sonst nichts.«
»Das ist unmöglich«, entgegnete Ventel. »Es gibt Dinge, die du ändern kannst, und Dinge, die du nicht ändern kannst. Und eins von den Dingen, die du nicht ändern kannst, ist dir das zurückzuholen, was die Zeit unwiederbringlich geraubt hat. Finde dich damit ab!«
»Das kann ich nicht!«, schrie Lyannen fast heraus. »Verstehst du, dass ich das nicht kann?«
»Natürlich verstehe ich das.« Ventel nickte. »Aber ich weiß auch, dass du dich trotzdem damit abfinden musst. Geh lieber etwas essen. Um das Pferd kümmere ich mich.«
Lyannen schaute ihn verblüfft an. »Aber du hast es doch eben gesehen! Ardir scheut, sobald er dich nur wittert.«
»Dieses Mal nicht.« Ventel klang so überzeugt, dass Lyannen dem nichts entgegenzusetzen hatte. Er reichte seinem Bruder den Striegel und ging mit gesenktem Kopf zum Feuer.
Den ganzen Abend bekamen die Rebellen kein Wort aus Lyannen heraus. Er aß lustlos und blickte ständig in die Richtung, wo Ventel sich gerade mit seinem Pferd beschäftigte. Allerdings konnte er die beiden nicht sehen. Schließlich konnte er sich nicht mehr zurückhalten, stellte seinen halb geleerten Teller auf den Boden und ging zu Ventel hinüber. Keiner fragte nach, warum er das tat, denn Drymn hatte den anderen gesagt, dass Lyannen ihr Mitgefühl nicht wollte. Einen kurzen Moment lang fühlte sich Lyannen von Hass durchflutet. Warum mussten die anderen ihn bemitleiden und für minderwertiger halten, nur weil er ein Halbsterblicher war? Hatte seine Mutter vielleicht nicht ihre Welt vor der totalen Zerstörung gerettet, als die Ewigen nicht mehr aus noch ein wussten? Hatten sie und ihre Gefährten etwa nicht bewiesen, dass nicht das Blut zählt, sondern Mut und Enschlossenheit?
Anscheinend hatte das nicht genügt. Die Ewigen hatten sich danach wieder so in ihrem Hochmut eingesponnen, dass sie es vergessen hatten, sobald Frieden eingekehrt war. Die Vorstellung, dass die Sterblichen ihnen nicht ebenbürtig waren, war so fest in ihrer Kultur verwurzelt, dass nicht einmal hundert heroische Taten sie dazu bringen könnten, ihre Meinung zu ändern.
Und was ist, wenn sie letzten Endes recht haben?, fragte sich Lyannen.
Ventel war schon mit Striegeln fertig, als Lyannen zu ihm trat, und hatte seine Decke neben seinem Tier ausgebreitet. Ardir war jetzt unglaublich ruhig.Ventel saß mit nacktem Oberkörper auf seiner Decke, streichelte ihm übers Maul und schien mit ihm zu reden. Lyannen fragte sich, ob das Pferd ihn wohl verstand, und warum er, Lyannen, das nicht konnte.
Ventel lächelte, richtig strahlend, das erste echte Lächeln, seit ihn der Pixie verwundet hatte. Aus seinen Zügen war die Härte gewichen, und einen Moment lang glaubte Lyannen, den Ventel vor sich zu haben, den er kannte, der wirklich sein Bruder war. Doch dann fiel sein Blick auf die Narbe der Verletzung. Sie war nicht weiß oder rosa wie eine normale Narbe, sondern schwarz, schwarz wie die Nacht. Und in einem Moment bestürzender Klarheit begriff Lyannen, dass Ventels Leben, das Leben des Ventels, den er geliebt hatte, bis zum letzten Tropfen aus dieser Wunde herausgeströmt war und dass es niemals wiederkehren würde.
FÜNFZEHN
V IRIDIAN UND DER Einsame standen über eine große Karte der Unbekannten Länder gebeugt, die die riesige Tischplatte im Ratsaal der Droqq bedeckte. Sie bestand aus
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