Gefaehrten der Finsternis
schmale Lippen.Tränen wirkten in diesem finsteren Gesicht so unpassend, wie es ein Lächeln getan hätte. Es war unglaublich, wie sehr Lucidious den Marmorstatuen der vergangenen Könige glich, die auf den Fluren des Königspalastes in Ewigkeit über die Geschicke des Reiches wachten. Er strahlte so viel Härte aus, dass er selbst schon wie in Marmor gemeißelt wirkte.
So hatte ihn auch Tyke in Erinnerung behalten, der ihn sogar noch als ganz jungen Mann gekannt hatte, als die Jugend seine harten Herrscherzüge noch ein wenig milderte. Tyke hatte Lucidious nie als seinen Bruder betrachtet, nicht einmal, als er ein Kind war, vielleicht wegen der wechselseitigen Abneigung, die beide stets empfunden hatten.Vielleicht lag es auch ganz einfach
an dem erheblichen Altersunterschied zwischen ihnen. Wenn Tyke an jemanden gedacht hätte, der ihm am Herzen lag, wäre ihm sicher nie Lucidious in den Sinn gekommen. Und doch musste Tyke in dieser schlimmen Lage gerade an seinen Bruder, den König, denken.
Tyke ging es gar nicht gut. Die Wunde auf seinem Rücken war zwar verheilt, nur eine kaum wahrnehmbare Narbe war auf seiner hellen Haut zurückgeblieben. Aber die Verletzungen auf den Rückseiten seiner Oberschenkel, die wesentlich tiefer waren, waren in einem besorgniserregenden Zustand. Tyke konnte sie nicht sehen, doch die Schmerzen und die Blut- und Eiterspuren, die sich immer weiter auf seinem nebelgrauen Umhang ausbreiteten, deuteten darauf hin, dass sie sich schlimm entzündet hatten. Allerdings konnte er nichts anderes tun als darauf hoffen, dass sich sein Zustand nicht noch weiter verschlechterte. Er hatte weder Arzneien bei sich noch Kleider zum Wechseln. Er hatte nicht einmal einen Streifen Stoff, mit dem er die Wunden hätte verbinden können, und auch keine von den Heilsalben, die die Feldärzte mit so viel Erfolg verwendeten. Ja, eigentlich hatte er nicht einmal Wasser oder einen Kanten Brot. Seit drei Tagen hatte er nichts mehr gegessen und nichts mehr getrunken. Er war so müde, erschöpft und verwirrt, dass er kaum mitbekam, was er tat.
In diesen drei Tagen hatte er das ganze Lager durchquert, indem er von Zelt zu Zelt schlich und sich dahinter versteckte, und ohne es zu merken hatte er die Grenze überschritten. Nun befand er sich bereits in den Wäldern des Ewigen Königreiches und war nicht allzu weit von der Letzten Stadt entfernt. Obwohl der Wald hier üppig grün war, war Tyke noch auf keinen Bach oder eine Quelle gestoßen. Er hatte nur ein paar Tautropfen von den feuchten Blättern lecken können und hatte sich gewaltsam zurückhalten müssen, um nicht die Früchte zu essen, die so einladend an den Ästen hingen. Es war eine große Versuchung, aber bei allem Hunger und aller Müdigkeit war der junge Sterbliche
doch nicht so dumm, etwas zu sich zu nehmen, von dem er nicht wusste, ob es auch wirklich genießbar war. Völlig am Ende seiner Kräfte war er schließlich im Schatten eines großen Baumes zu Boden gesunken. Er war fest überzeugt, dass er nie wieder aufstehen konnte, und da ihn in diesem Moment eine große Gleichgültigkeit überfiel, suchte er sich weder einen Unterschlupf noch tarnte er sich mit dem Dämonenmantel. Unverzüglich schlief er ein, und sein Schlaf war so tief, dass er nicht einmal aufwachte, als etwa dreißig hochgewachsene schweigsame Gestalten sich näherten. Tyke kam auch nicht zu sich, als sie ihn aufhoben und mit sich davontrugen.
Als Tyke erwachte, hatte er starke Kopfschmerzen. Er fühlte sich müde und entmutigt und konnte sich an nichts mehr erinnern. Er kniff ein paar Mal die Augen zusammen, setzte sich auf und entdeckte zu seiner großen Überraschung, dass er nicht mehr unter einem Baum lag, sondern in einem Zimmer. Die frühe Morgensonne fiel durch zwei große Fenster direkt vor ihm herein und leuchtete mit ihrem hellen Schein den ganzen Raum aus. Tyke sah sich eilig um und entdeckte, dass er sich in einem Schlafgemach befand, das fast ebenso prächtig und elegant war, wie sein eigenes am Hof von Mirnar zu Zeiten von König Malvas gewesen war.Von der hohen, gewölbten Decke hing ein Kristallleuchter, in dem sechs zierliche schwarze Kerzen steckten. Die Wände des Raumes waren weiß, Tür- und Fensterrahmen vergoldet und die großen Scheiben der Fenster waren so klar poliert, dass man meinte, da wäre gar kein Glas. Hauchzarte Vorhänge aus feinster weißer Seide blähten sich vor ihnen und der Boden war mit glänzendem Marmor gefliest.Tyke bemerkte, dass er in
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