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Geheime Macht

Geheime Macht

Titel: Geheime Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilona Andrews
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durch die Finger, bevor ich auch nur die Chance erhielt, den Kopf vom Kissen zu heben.
    *
    »Andrea?«, flüsterte Ascanio neben mir.
    Ich öffnete die Augen.
    Er hockte neben meiner Pritsche. »Tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Meine Mutter steht draußen vor der Tür. Darf ich sie hereinlassen?«
    »Natürlich darfst du sie hereinlassen.«
    »Danke.«
    Er ging wieder. Ich rieb mir die Augen und stemmte mich hoch. Die aufziehbare Uhr auf dem Nachttisch sagte, dass es sieben Uhr abends war. Jede Zelle meines Körpers schmerzte. Unten klapperte der Riegel – Ascanio öffnete die Tür. Ich zwang mich aufzustehen, ging durch den Flur und hockte mich auf den obersten Treppenabsatz.
    Ascanio zog die Tür auf und trat zur Seite. Martina kam herein. Sie hatte etwas Ungewöhnliches an sich, eine Art aristokratischer Schönheit am Schnittpunkt zwischen Strenge und Sinnlichkeit, ohne klar in die eine oder andere Richtung zu tendieren. Ihr dunkles Haar krönte ihren Kopf in einer geflochtenen Hochsteckfrisur. Ihre braune Haut war makellos. Ihre Züge waren kräftig geschnitten, und ihre Haltung drückte große Selbstsicherheit aus, sodass jedermann wie selbstverständlich von ihr angezogen wurde. Barabas nannte sie Königin Martina. Sie trug Jeans und eine olivfarbene Bluse, aber der Spitzname passte trotzdem.
    Ascanio schloss die Tür, verriegelte sie und stand unbeholfen da. Ich hatte ihn noch nie zuvor unbeholfen erlebt.
    »Wie geht es dir?« Martina hob eine Hand, um seine Wange zu berühren, hielt jedoch kurz vor dem Kontakt inne, als hätte sie es sich anders überlegt.
    »Gut … danke.«
    »Ich habe dein Lieblingsessen mitgebracht«, sagte sie und reichte ihm einen Korb.
    Ascanio nahm das Handtuch vom Korb und lächelte. Es war ein schüchternes Kinderlächeln, das in einem erstaunlichen Gegensatz zu seiner jugendlichen Don-Juan-Rolle stand.
    »Du solltest sie essen«, sagte sie.
    Ascanio warf mir einen Blick zu.
    »Schon gut«, sagte Martina. »Mach nur. Ich werde ein wenig mit Andrea plaudern.«
    Ascanio nahm den Korb entgegen, beugte sich vor und küsste seine Mutter auf die Wange. Dann verschwand er in der Küche.
    Martina stieg die Treppe hinauf und setzte sich neben mich.
    »Was ist in diesem Korb?«, fragte ich.
    »Cannoli«, sagte sie. »Er mag sie wirklich sehr gern.«
    Sie hatte den weiten Weg von der Festung hierher auf sich genommen, nur um ihm etwas zu essen zu bringen. Irgendetwas stimmte nicht.
    »Hat Raphael dir jemals unsere Geschichte erzählt?«, fragte sie.
    »Nein.« Ich wusste, dass Ascanio aus irgendeinem Grund eine Weile nicht beim Clan gelebt hatte, aber das war auch schon alles.
    Sie nickte. »Ich war jung und lebte im Mittelwesten. Ich wurde nicht gebissen, sondern als Bouda geboren. Auch meine Mutter war eine Bouda, mein Vater war ein Werwolf. Ich hatte die beste Familie überhaupt, Andrea. Ich wurde sehr geliebt.«
    »Was ist passiert?«, fragte ich. Seltsam. Ich hatte gedacht, dass ihre große Selbstsicherheit Distanz schuf, aber sie wirkte ausgesprochen nett. Ihre Stimme beruhigte mich.
    »Es gab eine Flut«, sagte sie. »Eine dieser verrückten Fluten, die manchmal in Staaten wie Iowa auftreten. Der Fluss stieg an und überschwemmte unsere Stadt. Wir saßen auf dem Dach, und meine Mutter sah, wie unsere Nachbarn in ihrem Auto vorbeitrieben, mit den Kindern auf den Rücksitzen. Das Auto sank, und alle schrien. Dann ging der Wagen unter. Meine Mutter war stärker als mein Vater, also sprang sie ins Wasser und schwamm hinterher. Sie kam nicht zurück. Dann tauchte mein Vater, um sie zu holen. Auch er kehrte nicht zurück. Ich saß allein auf dem Dach und weinte und schrie und betete, dass Gott sie mir zurückbrachte, aber nichts tauchte aus der schlammigen Wasseroberfläche auf.«
    Ich konnte mir vorstellen, wie sie auf dem Dach kauerte und sich die Augen ausweinte. »Das ist schrecklich.«
    »Danke für dein Mitgefühl. Meine Großeltern nahmen mich auf, aber es war nicht dasselbe. Ich verließ sie, sobald ich konnte, und reiste herum, übernahm Gelegenheitsjobs, war Rausschmeißerin in Bars und Kellnerin in Restaurants. Ich war ziemlich wild. Wenn ein Kerl hübsche Augen und kräftige Arme hatte, gab ich mich ihm hin.« Sie lächelte mit einem leichten Funkeln in den Augen. »Ich suchte immer wieder am falschen Ort nach Liebe. Ich hatte viel Spaß.«
    »Hast du deinen Traumprinzen gefunden?«
    »Ich habe viele Traumprinzen für den Moment gefunden. Aber nichts davon hatte Bestand.

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