Geheime Macht
möglicherweise sogar ein bedauernswertes Mitglied des Restaurantpersonals, falls sich zufällig eins in der Nähe aufhält. Wir neigen zur Dramatik, sowohl im Kampf als auch in der Liebe.«
»Ohne Dramatik wäre das Leben einfacher«, erklärte ich.
»Aber nicht für uns. Wir müssen Dampf ablassen, Andrea. Das ist unsere Natur. Aber noch mal zurück zum Clan. B’s derzeitige Stellverterin ist nicht dazu geeignet, die Führung des Clans zu übernehmen. Sie ist die Beta, weil niemand anderes diese Aufgabe und diese Verantwortung übernehmen will. Wir wären völlig ohne Führung und müssten es ausfechten. Willst du wirklich so egoistisch sein, Andrea?«
Sie hatte recht. Das wollte ich nicht. Ich wollte nicht von Gestaltwandlergesetzen beherrscht werden, und ein Rest der jugendlichen Andrea wollte mit den Füßen aufstampfen und schreien, dass es ungerecht war. Aber es war gerecht. Ein Bürger unterstand den Gesetzen seines Landes, und selbst wenn man sie für ungerecht hielt, musste man sie trotzdem befolgen. Wenn man es nicht tat, wurde man von Leuten wie mir verhaftet.
Ich wollte keine Sonderbehandlung, weil ich ein Tierabkömmling war. Aber nun passierte genau das, weil ich die Sache forciert hatte und jeder Rücksicht auf mich nehmen musste.
Was hatte ich eigentlich zu verlieren, wenn ich mich dem Clan anschloss? B hatte recht, ich hatte wirklich das geeignete Rüstzeug. Ich konnte Mitglied werden, eine verantwortliche Position übernehmen, mich bewähren, und wenn die Zeit gekommen war, konnte ich Tante B die Führung über die Boudas wegnehmen.
Ich grübelte noch eine Weile und betrachtete diesen Gedanken von allen Seiten. »Die Logik sagt mir, dass du recht hast. Alles, was du vorgetragen hast, klingt vernünftig. Aber es fühlt sich irgendwie an, als würde ich kapitulieren.«
Martina nickte. »Du hast das Gefühl, dass du in eine bestimmte Richtung gedrängt wirst. Du musst dich dem Rudel anschließen, nicht weil du es willst, sondern weil du es tun musst, wenn du überleben willst. Hier ist dein Zuhause, und du möchtest hier nach deinen eigenen Vorstellungen leben und nicht nach denen des Rudels.«
»Ja.«
»Was erwartest du von deinem Leben, Andrea?«
Ich sah sie nur an. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf antworten sollte.
»Jeder von uns sucht sich ein Lebensziel«, sagte Martina. »Meins besteht darin, anderen Leuten zu helfen, wieder gesund zu werden. Was ist dein Ziel?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Martina lächelte. »Dann solltest du bei Gelegenheit darüber nachdenken.«
Ich war eine Gestaltwandlerin. Das konnte mir niemand wegnehmen. Niemand konnte mich zum vorzeitigen Ruhestand zwingen, und die Boudas brauchten mich. Aber ich hatte keine Vorstellung von meinem Lebensziel. Ich hatte nie ernsthaft darüber nachgedacht.
»Danke, dass du zu mir gekommen bist«, sagte ich. »Könntest du Tante B ausrichten, dass ich sie in ein oder zwei Tagen besuchen werde?«
Martina nickte. »Ich werde ihr Bescheid geben.«
*
Nachdem Martina und Ascanio gegangen waren, machte ich ein Nickerchen und hörte im Schlaf das Telefon klingeln. Als ich von der Treppe ins Büro trat, war bereits der Anrufbeantworter angesprungen.
»Andi, ich bin’s«, sagte Raphael.
Ich trat vom Telefon zurück.
»Ich war bei Garcia senior«, berichtete er. »Er sagt, dass Gloria Dahl an ihn herangetreten ist und ihn gebeten hat, sich um das Blue Heron zu bewerben. Ich dachte, dass Gloria und Anapa vielleicht zusammengearbeitet haben. Das klingt logisch. Er gibt ein Angebot ab, und sie reicht das zweithöchste ein. Wenn also mit seinem Angebot etwas schiefgeht, würde er das Gebäude in jedem Fall bekommen. Aber Garcia sagte, dass Glorias Angebot etwa achtzigtausend unter meinem lag, womit es einhundertfünfzehntausend unter dem von Anapa lag. Also hatte sie von Anfang an keine Chance. Bei einer Zusammenarbeit hätten ihre Angebote näher beieinander gelegen. Anapa hat viel zu hoch und Gloria viel zu niedrig geboten.«
Hm. Ich hätte schwören können, dass Gloria eine Komplizin von Anapa war. Damit zeigte sich mal wieder, wie wenig ich wusste.
»Ich hoffe, du bist gut nach Hause gekommen«, sagte Raphael. »Ich werde etwas später bei dir vorbeischauen. Stell ohne mich keine Dummheiten an.«
Mit ihm würde ich gar nichts anstellen, weder Dummheiten noch sonst irgendwas.
Ich warf einen Blick auf die Welt außerhalb des Fensters. Es war ein paar Minuten nach neun, und der Abendhimmel war dunkel. Perfekt.
Ich
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