Geliebt
»Hier hat Elizabeth gelebt. Die Frage ist bloß, warum die Karte uns hierhergeschickt hat. Ich sehe jedenfalls nichts«, fügte er schließlich niedergeschlagen hinzu.
»Ich auch nicht«, musste Caitlin zugeben.
Ungezwungenes Schweigen senkte sich über sie. Nach dem Strudel der Ereignisse im Laufe des Tages fühlte Caitlin sich erschöpft. Sie war einfach froh, dass sie für die Nacht ein Dach über dem Kopf hatten, und konnte allmählich an nichts anderes mehr denken. Sie liebte das Gefühl von Calebs Mantel um ihre Schultern. In der Tasche ihrer Jeans spürte sie ihr Tagebuch und hätte es gerne herausgenommen, um einen Eintrag zu machen – aber sie war schlicht und ergreifend zu müde.
Sie sah zu Caleb hinüber und betrachtete ihn versonnen. Es war erstaunlich, wie immun er gegenüber Kälte, Müdigkeit und offensichtlich sogar Hunger war. In der Nacht schien seine Energie sogar noch zuzunehmen. Trotz all dem, was sie durchgemacht hatten, wirkte er absolut frisch – und das, obwohl man auf ihn geschossen hatte. Ein Blick auf seinen Arm zeigte ihr, dass die Wunde bereits vollständig verheilt war.
Gedankenverloren starrte er ins Feuer, und seine braunen Augen leuchteten. Caitlin empfand das dringende Bedürfnis, mehr über ihn zu erfahren.
»Erzähl mir etwas von dir«, forderte sie ihn auf. »Bitte.«
»Was willst du denn wissen?«, fragte er und sah weiter ins Feuer.
»Alles«, erwiderte sie. »Die Dinge, die du erlebt hast … Ich kann all das nur schwer begreifen. Woran kannst du dich am besten erinnern?«
Ein langes Schweigen senkte sich über den Raum, während Caleb mit gerunzelter Stirn nachdachte.
»Schwer zu sagen«, begann er schließlich leise. »An Anfang war ich absolut begeistert von der Vorstellung, immer weiterzuleben, Jahrhundert für Jahrhundert. Dann starben nach und nach alle Menschen, die mir etwas bedeutet hatten – Freunde, Verwandte und andere geliebte Menschen. Das ist es, was am meisten wehtut. Man fühlt sich sehr, sehr einsam.
Nach den ersten hundert Jahren baut man allmählich eher eine Bindung zu Orten als zu Menschen auf: zu Dörfern, Städten, Gebäuden, Bergen. Daran hält man sich fest.
Doch im Laufe der Jahrhunderte verschwinden sogar diese Orte von der Bildfläche. Ortschaften verfallen, neue entstehen. Länder schließen sich zusammen. Kriege löschen ganze Kulturen aus, die man einst geliebt hat. Sprachen gehen verloren. Also lernt man, sein Herz auch nicht mehr an Orte zu hängen.«
Caleb räusperte sich.
»Wenn Orte, die man liebt, von der Bildfläche verschwinden, wendet man sich schließlich Besitztümern zu. Über viele Jahrhunderte habe ich Kunstgegenstände gesammelt und einen unschätzbaren Schatz angehäuft. Das hat mir große Freude bereitet. Aber nach einigen Hundert Jahren hat das ebenfalls seinen Reiz eingebüßt. Das Sammeln wird irgendwann bedeutungslos.
Nach Tausenden von Jahren schließlich betrachtet man das Leben mit anderen Augen. Man bindet sich nicht mehr an Menschen, Orte oder Besitztümer. Man bindet sich an gar nichts mehr.«
»Was bleibt denn dann noch übrig?«, wollte Caitlin wissen. »Was bedeutet dir etwas? Es muss doch noch irgendetwas geben.«
Grübelnd starrte Caleb vor sich hin.
»Ich nehme an«, antwortete er nach einer Weile, »dass nur noch Eindrücke übrigbleiben, wenn alles andere wegfällt.«
»Eindrücke?«
»Genau, Eindrücke von bestimmten Menschen. Erinnerungen an Zeiten, die man miteinander verbracht hat. Wie sie einen beeinflusst haben.«
Caitlin wählte ihre nächsten Worte mit Bedacht.
»Meinst du … Beziehungen? Liebesbeziehungen?«
Schweigen legte sich über den Raum. Sie spürte, dass auch er sich Mühe bei der Wahl seiner Worte gab.
»Es gibt alle möglichen Arten von Beziehungen, die eine Rolle spielen, aber im Endeffekt wird eine Liebesbeziehung wahrscheinlich den tiefsten Eindruck hinterlassen«, erwiderte er schließlich. »Aber es steckt mehr dahinter. Am Anfang geht es um die Liebesgeschichte, doch im Laufe der Zeit nimmt die Person einen kleinen Teil von dir in Besitz. Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären soll. Aber es ist das, was einem nach all den Jahrhunderten bleibt.«
Calebs Ehrlichkeit rührte Caitlin. Sie hatte damit gerechnet, dass er ihr erzählen würde, wo er geboren wurde und aufgewachsen war. Aber wie üblich war er weit darüber hinausgegangen. Seine Worte beeindruckten sie sehr. Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte.
»Nach so langer Zeit«, fuhr er fort,
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