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Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition)

Titel: Gelobtes Land: Meine Jahre in Stalins Sowjetunion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eugen Ruge , Wolfgang Ruge
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noch während der Zug steht: «Kannste wenigstens Schach spielen?» Nachdem ich fünf oder sechs Partien verloren habe, erfahre ich, dass mein Partner Jugendmeister der RSFSR ist. Wo der wohl hinreist?
    Auf dem kleinen Bahnhof in Petropawlowsk ist das Durcheinander noch größer als in Swerdlowsk. Alle wollen nach Süden. Sie warten auf einen von hier nach Karaganda verkehrenden Zug, den der Volksmund «Spekulant» getauft hat. Nach anderthalb Tagen trifft er ein und speit mit Kisten und Truhen beladene Menschenmassen aus. Dass er wieder nach Karaganda zurückfährt, gilt als sicher, sodass der Sturm auf die endlose Wagenkette beginnt, ehe die Anreisenden richtig ausgestiegen sind. Ich erobere mir einen Platz neben der Tür. Hier kann ich wenigstens frische Luft atmen.
    Der «Spekulant» hält oft auf freiem Feld, rast dann wieder stundenlang ohne Halt dahin. Wir erreichen Karaganda gegen Abend. Von hier bis zum etwa 20 Kilometer entfernten Temir-Tau verkehren die Züge wieder nach einem mehr oder weniger festen Fahrplan. Anders ginge es auch nicht, wohnen doch viele Leute, die in Temir-Tau arbeiten, in Karaganda. Überfüllt sind die Waggons aber auch hier. Ich bleibe, da es drinnen stickig ist, auf der Plattform. Ein Reif hat sich um meine Brust gelegt – bald, sehr bald werde ich erfahren, wie es Veronika nun wirklich ergangen ist und ob sie mit mir einen zweiten Anfang in Soswa wagen will. Ich betrachte die Leute ringsum. Diese junge Frau, denke ich, könnte mit Veronika bekannt sein. Ich spreche sie an, erfahre, dass sie im Metallkombinat arbeitet. Sie fragt mich, ob ich Sowjetdeutscher sei, ob ich aus der «Arbeitsarmee» komme, und wenn ja, woher. Langsam senkt sich die Dämmerung nieder. Mein Gegenüber mustert mich aufmerksam, fragt dann geradeheraus: «Sind Sie nicht der Mann von Veronika?» Ich nicke. Sie hätte, sagt sie vieldeutig, von mir gehört. Was, sagt sie nicht. Ich traue mich nicht, sie danach zu fragen. So verharren wir schweigend.
    Als der Zug in Temir-Tau einfährt, ist es dunkel. In der Finsternis nehme ich die in Reih und Glied stehenden barackenartigen Häuser der aus dem Boden gestampften Stadt nur als Schatten wahr. Meine Begleiterin sagt, sie wohne ganz in der Nähe von Veronika und könne mir deren Haus zeigen. Gesprochen wird zwischen uns nicht mehr. Schließlich bleibt meine Begleiterin stehen und deutet auf ein im ersten Stock erleuchtetes Fenster: «Das ist ihre Küche.» Wir verabschieden uns. Sie gibt mir ein tröstendes Wort mit auf den Weg.
    Ich steige die Treppe hinauf. Es riecht nach Kommunalwohnung. Vor Veronikas Tür bleibe ich stehen, hole tief Luft: Was wird geschehen?
    Ich klopfe mehrmals, warte. Dann öffnet sich die Tür – Veronika steht, in einen Morgenmantel gehüllt, vor mir. Sie sieht aus wie immer, nur blass ist sie. Erschrocken schaut sie mich an: «Du …?»
    Mit Mühe ihre Fassung zurückgewinnend, bittet sie mich einzutreten. Ich lasse mich in der Küche auf einen Stuhl fallen und fühle, wie sich mir die Kehle zuschnürt, spüre ich doch, dass alles vergeblich ist. Veronika geht für einen Moment hinaus. Ob dieser Moment lang oder kurz ist, weiß ich nicht. Die Küche, die ich nur halb wahrnehme, bedrückt mich. Das fremde Familienleben ist überall spürbar.
    Dann kommt Veronika zurück und setzt sich mir gegenüber. Ich ergreife ihre Hand, doch die ist kalt, gefühllos. Sie entzieht sie mir nicht, sagt aber: «Ich bin nicht allein.» Richtig, da ist ja dieser Mann, mit dem sie jetzt zusammenlebt …
    Langsam, ganz langsam fügen sich geflüsterte Brocken zu einem Gespräch zusammen. Mal wird es eindringlich, mal versiegt es. Es ist, als sprächen wir über Ereignisse, die sich vor 1000 Jahren abspielten. Zögernd, oft stockend, Pausen einlegend, schildert sie ihren Leidensweg.
    Nachdem sie mit Kira Reppich nach Temir-Tau übergesiedelt war und dort einen guten Posten als Buchhalterin bekommen hatte, interessierte sich ein NKWD-Oberst für sie. Er war ein hohes Tier in der Gebietsverwaltung der Staatssicherheit in Kasachstan, ließ alle Briefe von mir an sie und von ihr an mich abfangen und eröffnet ihr schließlich, dass ich als faschistischer Spion entlarvt und erschossen worden sei. Es bestehe die Gefahr, dass auch sie als Komplizin ihres Mannes verhaftet und erschossen werde.
    «Du kannst dir nicht vorstellen», sagt Veronika, «in welchen Zustand er mich versetzt hat. Er trat ja keineswegs als Erpresser auf, sondern als um mich bemühter

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