Generation Laminat - mit uns beginnt der Abstieg
unterschiedlicher Kulturen und unterschiedlicher Zeiten betrachten Dinge eben – in der Tat – unterschiedlich. Wenn mein Denken aber so sehr kulturell, historisch und individuell bedingt ist, wie soll da Selberdenken aus der Krise helfen? Mein Denken verbeugt sich doch dauernd höflich vor dem der anderen, ganz gleich, ob es mit ihm einverstanden ist oder nicht.
»Dafür gibt es doch Spezialisten«, findet ein Mann, mit dem ich während einer Zugfahrt ins Gespräch gerate. »Ich kenne mich gut aus mit Computern. Zeigen Sie mir eine Software, und ich kapiere, wie die funktioniert. Bei Politikern gehe ich davon aus, dass sie Politologie studiert haben und sich daher gut mit Politik auskennen.«
Dieser Herr hat nicht die geringsten Probleme damit, Harald Welzers und Theresia Volks Aufforderung, selber zu denken, von der Hand zu weisen und zu erwarten, dass die Politiker, die wir wählen, oder die Experten, denen wir in den unzähligen Talkshows begegnen, schon für uns denken werden. »Denken«, halte ich ihm pathetisch entgegen, »kann man doch nicht delegieren.«
Er zuckt die Schultern. »Aber ich kenne mich nicht aus mit Steuern. Und wenn die Politiker die Unternehmen weniger besteuern, dann werden die sich schon was dabei denken.«
Ich zeige auf das Buch Steuergerechtigkeit in der Globalisierung , das zwischen uns auf dem Tisch liegt. »Es gibt Bücher«, sage ich, »da können Sie sich darüber informieren, warum die Politiker die Unternehmen geringer besteuern.«
Er blättert etwas darin herum und schüttelt den Kopf. »Ich habe eine anstrengende Arbeit, ich habe zwei Kinder: Wann soll ich das denn lesen?«
»Also«, fasse ich zusammen, »Sie verstehen nichts von Politik und Sie haben keine Zeit, sich zu informieren?«
Er grinst und nickt.
»Finden Sie denn, dass alles gut läuft?«
Er schüttelt den Kopf. »Natürlich nicht. Diese ganze Euro- und Schuldenkrise, das kann doch nicht gutgehen.«
»Haben Sie manchmal Angst?«
Wieder nickt er.
»Wovor?«, frage ich.
»Dass ich mir mein Leben irgendwann nicht mehr leisten kann. Dass ich meinem Sohn nicht das Spielzeug kaufen kann, das er sich wünscht. Dass ich irgendwann nicht mehr genug verdiene.« Er schaut mich an. »Wissen Sie, es ist immer schwer, den Lebensstandard zu senken. Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich Ihr Laptop nicht mehr leisten. Das wär doch schlimmer, als wenn Sie sich nie eins hätten kaufen können.«
»Was ich nicht verstehe«, entgegne ich, »dass Sie Angst haben, dass Sie das Gefühl haben, es läuft etwas grundsätzlich verkehrt, aber keine Zeit finden, sich zu informieren, sich zu überlegen, wie man etwas ändern könnte, dass Sie also weder denken noch handeln.«
Er zuckt die Schultern. »Was hab ich schon für Möglichkeiten?«
Dieser Herr war sehr nett und sehr mutlos und entsprach nicht gerade dem Ideal des aufgeklärten Menschen: »Es kann nicht schaden, sich ab und zu in Erinnerung zu rufen, welche zivilisatorische Leistung mit der Aufklärung verbunden ist; und welche die Alternativen waren und wieder sein könnten: Unwissenheit, Dummheit und eine Form von Ausgeliefertsein, die mächtige Meinungsmacher das auf den Scheiterhaufen werfen lässt, was ihnen nicht in den Kram passt.« 154
154 Ebd.
Ist der Versuch, selber zu denken, bereits eine erste Form von Widerstand? Ja, sagen zwei berühmte Frankfurter Denker: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. »Denken ist selbst schon ein Zeichen von Resistenz, die Anstrengung, sich nicht mehr betrügen lassen zu wollen«, schreibt Max Horkheimer. 155
155 Max Horkheimer: Autoritärer Staat, S. 318
Horkheimer und Adorno mussten aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln beide vor den Nationalsozialisten ins Exil fliehen. Ihr Denken kreist um Autorität und Utopie. Laut Adorno ist es »die planetarische Dummheit, welche die gegenwärtige Welt daran hindert, den Aberwitz ihrer eigenen Einrichtung zu sehen«. 156 Gegen diese Dummheit kommt man nur denkend an, da sind sich Adorno, Horkheimer, Welzer und Volk ganz einig. Allerdings kann das nicht irgendeine Art von Denken sein, sagt Adorno, es muss ein ganz bestimmtes Denken sein, nämlich eines, das sich auf das Element des Wunsches besinnt. Erst, wenn Denken und Wünschen, Denken und Fühlen sich vereinen, entsteht ein Denken, das zur Utopie treibt. Für Adorno ist Intelligenz daher eine moralische Kategorie.
156 Theodor W. Adorno: Minima Moralia, S. 261
Diesen Hinweis finde ich entscheidend, wenn vom Selberdenken die Rede ist:
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