Gerechtigkeit fuer Igel
daß es auch mich hätte erwischen können.
Die Geschichte der Verteidigung unter Berufung auf Unzurechnungsfähigkeit legt jedoch nahe, daß viele Menschen nicht auf Introspektion zurückgreifen. Empörung ist ein häufigeres Motiv ihrer Entscheidung. Wenn die Öffentlichkeit es nach einem bestimmten Verbrechen besonders auf Rache abgesehen hat, haben Richter und Gesetzgeber oft mit einer Verengung der Grenzen der Unzurechnungsfähigkeitsverteidigung reagiert. Die M'Naghten-Regel, die nach dem Holzfäller benannt wurde, der statt des britischen Premierministers Robert Peel aus Versehen dessen Sekretär erschoß, besagt zum Beispiel, daß nur die erste, kognitive Fähigkeit in Betracht zu ziehen sei, und stipuliert, daß nur ein besonders niedriges Niveau dieser Fähigkeit einen Entschuldigungsgrund darstellen könnte. Im Laufe vieler Jahrzehnte sind die meisten US -amerikanischen Staaten von dieser strikten Regel zu einer milderen Fassung übergegangen, die es Angeklagten auch erlaubt zu argumentieren, sie seien von einem unwiderstehlichen Impuls überwältigt worden. Es erwies sich jedoch als nicht besonders praktikabel, Jurymitgliedern die Aufgabe zu übertragen, ein angemessenes Niveau der zweiten, regulativen Fähigkeit zu bestimmen, und die Ergebnisse erschienen vielen Wissenschaftlern ebenso wie der allgemeinen Öffentlichkeit häufig als zu nachsichtig. Das vor einem Gericht in Florida vorgebrachte Ar
426 gument, der Angeklagte verfüge nicht über die vorausgesetzte regulative Fähigkeit, da er zuviel ferngesehen habe, schien eine Art reductio ad absurdum zu sein, die den Standard selbst in Frage stellte.
29 Es war jedoch die versuchte Ermordung Präsident Reagans, die die lautesten Beschwerden gegen die Nachlässigkeit der Unzurechnungsfähigkeitsverteidigung provozierte.
Auf Grundlage einer Empfehlung des American Law Institute haben verschiedene US -amerikanische Staaten nun einen anderen Ansatz gewählt: Eine entsprechende Verteidigung steht einem Angeklagten nur dann offen, »wenn er zur Zeit des fraglichen Verhaltens aufgrund einer psychischen Erkrankung oder Störung nicht über die umfassende Fähigkeit verfügt, entweder den kriminellen Charakter seines Tuns zu erkennen oder sein Verhalten an den Forderungen des Gesetzes auszurichten«.
30 Diese Regel enthebt uns nicht der Notwendigkeit der Beurteilung, und unterschiedliche Anwälte, Richter und Jurymitglieder werden dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen. Sie lenkt die Aufmerksamkeit jedoch von einem für sich stehenden Ereignis auf die allgemeine Fähigkeit. Das hat Vorteile für die Beweisaufnahme: Es ist einfacher zu beurteilen, ob ein Angeklagter im allgemeinen nicht über eine Fähigkeit verfügt, was sich in verschiedenen Hinsichten zeigt, als zu entscheiden, ob er im Fall der einen zu entschuldigenden kriminellen Handlung eine einmalige, temporäre Unfähigkeit manifestiert hat. Daß eine psychische Erkrankung oder Störung nachgewiesen werden muß, reduziert zudem die Vagheit dieser Verteidigung: Von einer »Erkrankung« zu sprechen stellt, auch wenn es sich nicht um einen medizinischen Fachterminus handelt, bereits eine Klassifikation dar. Wir halten es nicht für eine psychische Erkrankung, wenn die kognitiven und regulativen Fähigkeiten einer Person etwas weniger ausgeprägt sind, als wir es normalerweise erwarten würden. Sie müssen also kaum entwickelt sein.
427 Nötigung, Ungerechtigkeit und Verantwortung
Wenn wir die wichtige Verbindung zwischen unserer ethischen Verantwortung dafür, ein gelungenes Leben zu führen, und unserer reflexiven Verantwortung für konkrete Entscheidungen anerkennen, können wir weitere umstrittene Merkmale des Systems der Verantwortung besser verstehen und angemessener diskutieren. So ist es zum Beispiel umstritten, ob und gegebenenfalls wann Nötigung Verantwortung reduziert. Im Normalfall besitzen Personen, die, weil ihr eigenes Leben bedroht wird, dem Befehl gehorchen, eine andere Person zu töten, beide der relevanten Fähigkeiten. Sie gehorchen, weil sie ihre Situation richtig verstehen und dazu in der Lage sind, ihre Entscheidung an ihrem reflektierten Urteil darüber auszurichten, was am besten für sie ist. Ihre Verantwortung wird daher nicht geringer, auch wenn die Umstände vielleicht doch eine Entschuldigung darstellen. Zumindest in extremen Fällen von Folter stellt sich dies anders dar. Ein Mensch, der anderen mit Folter droht, versucht ebenso wie einer, der andere mit dem Tod
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