Gesammelte Werke
sehr häufig entweder unterdrückte oder besonders kalt behandelte Kinder sind. Ginge man auf ihre individuellen Nöte ein, lockerte man die Verhärtung, so wären sie wohl erreichbar, weil sie ja eben das empfingen, dessen sie unbewußt bedürfen. Auch müßten auf irgendeine Weise – und in dem ›auf irgendeine Weise‹ steckt das ganze Problem – die einwirkenden Pädagogen wirklich fähig sein, den Kindern das zu geben, was ihnen zu Hause fehlt. Weiter möchte ich annehmen, daß man es hier durchweg, schon im Kindergarten, dann auch in der Schule, mit einer Schlüssel-Gruppe, mit einigen oder wenigen Kindern zu tun hat – sozusagen, um den Ausdruck einmal auf Ungewohntes anzuwenden, ›public opinion leaders‹. Auf sie wäre die aufklärende und erzieherische Arbeit in der Kindheit von vornherein zu konzentrieren, anstatt daß man in diesem Bereich die Erziehung breit und notwendigerweise ohne die rechte Intensität streut. Man sollte auf sie die Aufmerksamkeit konzentrieren und sie zu verändern suchen. In Fällen, wo vom Elternhaus starker Gegendruck ausgeübt wird, dürfte ein Erzieher auch vor Konflikten mit den Eltern nicht zurückschrecken. Er müßte die Kinder lehren, daß das, was sie zu Hause hören, nicht lauteres Gold ist, daß ihre Eltern irren können, und warum. Die Zivilcourage zu solchen Konflikten wäre von den Erziehern zu erwarten.
Für möglich halte ich es, daß es in der Formation des autoritätsgebundenen Charakters und des antisemitischen Vorurteils einen kritischen Augenblick gibt. Wenn ich mich nicht täusche, ist das – ich sage es mit Vorbehalt, die Pädagogen unter Ihnen werden den Gedanken verifizieren oder falsifizieren können; es lohnt sich jedenfalls für sie, darüber einmal nachzudenken – der Augenblick des Schuleintritts. Das ist im Augenblick ja der Moment, wo man zum ersten Mal in eine Sekundär-Gruppe eintritt, die einem fremd und kalt gegenübersteht; wo man die Nestwärme – falls es heute so etwas noch gibt – plötzlich, gewissermaßen schockartig verliert. Das Trauma, das dabei sich bildet, dürfte leicht antisemitische Verhärtungen bilden. Druck und Kälte, die das Kind erfahren hat, werden weitergegeben; weil man sich selber plötzlich ausgeschlossen fühlt, wünscht man auch andere auszuschließen und sucht sich die Geeigneten aus. Pädagogen sollten ihre Aufmerksamkeit diesem Schock-Moment zuwenden und ihn womöglich abfangen. Früher gab es, in ländlichen Schulen zumal, die Volkssitte, daß der Lehrer den neu eintretenden Kindern Brezeln schenkte, die er freilich insgeheim von den Eltern bekommen hatte. Die Brezel-Sitte verrät recht tiefe Einsicht in das Phänomen. Man sollte, nach dem altertümlichen Modell, den Schock der Kälte und damit die Wendung zur Aggression zu verhindern trachten; mit anderen Worten, die Brezel- in eine Verhaltensweise umsetzen, die den Schulunterricht während der ersten Wochen der Spiel-Situation soweit wie nur möglich anähnelt. Über den ganzen Komplex wären zunächst einmal systematische Beobachtungen anzustellen, etwas wie Sozialforschung in der Schule zu betreiben, ehe man dazu kommen kann, wirklich bündige Maßnahmen zu ersinnen. Nur weiß man in so delikaten Dingen nie, wie lange man Zeit hat. Deshalb würde ich dazu tendieren, wenn meine unverbindlichen Beobachtungen plausibel sind, schon praktische Folgerungen auszuprobieren.
Überhaupt wäre in der Schule dem Problem des
Ausschließenden
nachzugehen, der Bildung besonderer Gruppen und Cliquen, die fast stets dadurch zusammengehalten werden, daß sie gegen irgendwelche anderen sich richten, die nicht mitmachen dürfen: »Mit dir spiel' ich nicht« – oder: »Der, mit dem spielt ja niemand«. Dieses Phänomen ist prinzipiell gleich gebaut wie das antisemitische. Die ihm entgegengesetzte Form einer menschlichen Beziehung wäre keine vag-kollektive Klassengemeinde, sondern die individuelle Freundschaft. Im Sinne einer dem Vorurteil entgegenwirkenden Pädagogik wäre es, individuelle Freundschaften zu ermutigen und nicht, wie es sicherlich oft noch in der Schule geschieht, sie zu ironisieren und herabzusetzen; dagegen, soweit es geht, der Bildung von tuschelnden Cliquen und derartigen Gruppen entgegenzuarbeiten, insbesondere, sobald sie irgend nach Kontrolle streben. Die Struktur der Cliquen-Bildung in der Schule insgesamt ist ein Schlüssel-Phänomen. Wie in einem Mikrokosmos bildet sich dann die Problematik der ganzen Gesellschaft ab. Offensichtlich
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