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Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: W. Theodor Adorno
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und der Frieden *
    Der »vorbereitende Ausschuß des Friedenskomitees an der Johann Wolfgang von Goethe Universität Frankfurt/Main« sandte uns einen offenen Brief, den »friedliebende Studenten auf einer Friedenskonferenz der westdeutschen Hochschulen in Heidelberg am 30. Juli 1950 beschlossen haben«, und bat uns, ihm unsere Ansicht über den Inhalt des Briefs mitzuteilen. Es handelt sich um einen Aufruf zum absoluten Verbot der Atomwaffen, der jede Regierung als Kriegsverbrecher zu behandeln droht, die »als erste« die Atomwaffen gegen irgendein Land einsetzt. Zugrunde liegt die Erklärung des »ständigen Weltfriedenskomitees in Stockholm«. Wir glauben uns verpflichtet, unsere Ansicht nicht bloß den Aufrufenden, sondern der Öffentlichkeit bekannt zu machen.
    Daß die Erhaltung des Friedens das dringendste Anliegen aller Menschen heute ist, und daß die neuen Waffen die endgültige Katastrophe herbeiführen können, ist selbstverständlich. Aber es ist Ausdruck der verstrickten und verblendeten Situation, die auf jenes absolute Grauen hintreibt, daß sie noch die Wahrheit darüber in die Lüge zu verkehren droht, indem sie sie in den Dienst der Lüge nimmt. Friedensaufruf und Ächtung der Atomwaffe sind ein Stück der Sowjetpropaganda, die darauf abzielt, allerorten die humanen Regungen dafür zu mißbrauchen, daß der Widerstand gegen die Gewalt gebrochen werde, die von der Sowjetunion ausgeht und die nicht zögern wird, den Krieg zu entfesseln, wenn die Moskauer Gewaltherrscher glauben, daß sie ihn gewinnen können. Das Verlangen nach dem Frieden, das die Völker aller Länder teilen, wird dazu benutzt, für das neue totalitäre Unternehmen Zeit zu gewinnen.
    Was Propaganda dem Begriff des Friedens antut, ist symptomatisch für die Veränderungen, denen heute der Begriff der Politik überhaupt unterliegt. Einmal hieß Politik die bewußte, unabhängige und kritische Anstrengung, durch Gedanken und Tat anstelle schlechter gesellschaftlicher Verhältnisse menschenwürdigere herbeizuführen. Heute ist Politik weithin bloße Fassade geworden. Sie meint nicht mehr die Verwirklichung der Humanität, sondern zwischenstaatliche Machtkämpfe. Die jetzt am lautesten die Ziele der Menschheit ausposaunen, sind die gleichen, die die Menschheit an die Kandare nehmen und ihnen jenen Geist der Kritik und Freiheit austreiben wollen, der allein menschenwürdigere Zustände zu erreichen vermöchte. Wer naiv, in der traditionellen Sprache des Pazifismus, zur Ächtung des Krieges aufruft, nimmt dabei stillschweigend die rote Armee und ihre ordensgeschmückten Generäle aus; wer das Grauen des Atomkriegs ausmalt, deckt willentlich oder unwillentlich zugleich die Vögte und Folterknechte, die ungezählte Millionen von Arbeitssklaven in Konzentrationslagern halten und Intellektuelle wie Meyerhold, die in die offizielle Kulturbarbarei nicht hineinpassen, umbringen. In einer Welt, in der die Gedanken mehr als je in Zweckzusammenhänge verflochten sind, genügt es nicht, vom Frieden zu reden. Man muß fragen, wer vom Frieden redet, in wessen Auftrag und in welcher Funktion.
    Wir haben versucht, nach unseren schwachen Kräften in unserer theoretischen und sozialwissenschaftlichen Arbeit den Geist kritischer Unabhängigkeit uns zu erhalten, bei dem allein wir die Hoffnung auf Abwendung des Unheils sehen. Solcher Geist der Kritik kann nicht Halt machen vor jenem Rußland, das einmal in der Tat jene Hoffnung aufs Ende der Kriege verkörperte, die es heute zur Phrase erniedrigt. Gerade wer dieser Hoffnung treu bleibt, tritt in notwendigen Gegensatz zum Imperialismus der Stalindiktatur.
    Das kritische Denken, an dem wir festzuhalten suchen, hat sein eigenes Wesen daran, daß es sich keiner Autorität verschreibt, sondern das Element lebendiger Erfahrung und kritischer Freiheit auch den mächtigsten Gedanken gegenüber sich bewahrt. Denn kein Gedanke ist davor gefeit, in Wahn überzugehen, wenn er aus jener lebendigen Erfahrung herausgebrochen, als Götze installiert wird. Das widerfährt heute der Marxischen Konzeption. Der Sinn eines jeglichen ihrer Sätze wird um so gründlicher ins Gegenteil verkehrt, je starrer sie nachgebetet werden. Wird aus Marx ein positives System, eine Weltformel gemacht, so tritt unsägliche Verarmung allen Erkennens und aller Praxis, schließlich ein Trugbild der Wirklichkeit ein. Weder besteht die Bildung aus Marx allein, noch ist er die ganze Wahrheit, und wem es um diese ernst ist, darf sich durch die

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