Gesammelte Werke
Theorie selbst identifiziere ich mich nach wie vor, ohne einen Drang zur Revision im leisesten zu verspüren.
1969
Fußnoten
*
Vgl. jetzt unten, S. 737.
**
Vgl. jetzt GS 10.2,
s.
S. 794ff.
***
Vgl. jetzt GS 10.2,
s.
S. 759ff.
»Keine Angst vor dem Elfenbeinturm«
Ein »Spiegel«-Gespräch
Spiegel:
Herr Professor, vor zwei Wochen schien die Welt noch in Ordnung ...
Adorno:
Mir nicht.
Spiegel: ...
Sie sagten, Ihr Verhältnis zu den Studenten sei nicht beeinträchtigt. In Ihren Lehrveranstaltungen werde fruchtbar und sachlich ohne private Trübung diskutiert. Nun haben Sie jedoch Ihre Vorlesung abgesagt.
Adorno:
Ich habe meine Vorlesung nicht für das ganze Semester abgesagt, sondern nur bis auf weiteres; in ein paar Wochen will ich sie wiederaufnehmen. Das machen alle Kollegen bei derartigen Vorlesungs-Sprengungen.
Spiegel:
Hat man Gewalt gegen Sie angewandt?
Adorno:
Nicht physische Gewalt, aber es wurde ein solcher Lärm gemacht, daß die Vorlesung darin untergegangen wäre. Das war offensichtlich geplant.
Spiegel:
Stößt Sie nur die Form ab, mit der die Studenten heute gegen Sie vorgehen – Studenten, die früher zu Ihnen gehalten haben, oder stören Sie auch die politischen Ziele? Früher herrschte ja wohl Übereinstimmung zwischen Ihnen und den Rebellen.
Adorno:
Das ist nicht die Dimension, auf der sich die Differenzen abspielen. Ich habe neulich in einem Fernsehinterview gesagt, ich hätte zwar ein theoretisches Modell aufgestellt, hätte aber nicht ahnen können, daß Leute es mit Molotow-Cocktails verwirklichen wollen. Dieser Satz ist unzählige Male zitiert worden, aber er bedarf sehr der Interpretation.
Spiegel:
Wie würden Sie ihn heute interpretieren?
Adorno:
Ich habe in meinen Schriften niemals ein Modell für irgendwelche Handlungen und zu irgendwelchen Aktionen gegeben. Ich bin ein theoretischer Mensch, der das theoretische Denken als außerordentlich nah an seinen künstlerischen Intentionen empfindet. Ich habe mich nicht erst neuerdings von der Praxis abgewandt, mein Denken stand seit jeher in einem sehr indirekten Verhältnis zur Praxis. Es hat vielleicht praktische Wirkungen dadurch gehabt, daß manche Motive in das Bewußtsein übergegangen sind, aber ich habe niemals irgend etwas gesagt, was unmittelbar auf praktische Aktionen abgezielt hätte. Seitdem es in Berlin 1967 zum erstenmal zu einem Zirkus gegen mich gekommen ist, haben bestimmte Gruppen von Studenten immer wieder versucht, mich zur Solidarität zu zwingen, und praktische Aktionen von mir verlangt. Das habe ich verweigert.
Spiegel:
Aber die kritische Theorie will die Verhältnisse nicht so lassen, wie sie sind. Das haben die SDS-Studenten von Ihnen gelernt. Sie, Herr Professor, verweigern sich jetzt jedoch der Praxis. Pflegen Sie also nur eine »Liturgie der Kritik«, wie Dahrendorf behauptet hat?
Adorno:
Bei Dahrendorf waltet ein Oberton von frisch-fröhlicher Überzeugung: Wenn man nur im kleinen bessert, dann wird vielleicht auch alles besser werden. Das kann ich als Voraussetzung nicht anerkennen. Bei der ApO aber begegne ich immer dem Zwang, sich auszuliefern, mitzumachen, und dem habe ich mich seit meiner frühesten Jugend widersetzt. Und es hat sich darin bei mir nichts geändert. Ich versuche das, was ich erkenne und was ich denke, auszusprechen. Aber ich kann es nicht danach einrichten, was man damit anfangen kann und was daraus wird.
Spiegel:
Wissenschaft im Elfenbeinturm also?
Adorno:
Ich habe vor dem Ausdruck Elfenbeinturm gar keine Angst. Dieser Ausdruck hat einmal bessere Tage gesehen, als Baudelaire ihn gebraucht hat. Jedoch wenn Sie schon vom Elfenbeinturm sprechen: Ich glaube, daß eine Theorie viel eher fähig ist, kraft ihrer eigenen Objektivität praktisch zu wirken, als wenn sie sich von vornherein der Praxis unterwirft. Das Unglück im Verhältnis von Theorie und Praxis besteht heute gerade darin, daß die Theorie einer praktischen Vorzensur unterworfen wird. Man will mir zum Beispiel verbieten, einfache Dinge auszusprechen, die den illusionären Charakter vieler politischer Zielsetzungen bestimmter Studenten zeigen.
Spiegel:
Diese Studenten haben aber offenbar große Gefolgschaft.
Adorno:
Es gelingt immer wieder einer kleinen Gruppe, Loyalitätszwänge auszuüben, denen sich die große Mehrheit der linken Studenten nicht entziehen mag. Aber das möchte ich noch einmal sagen: Sie können sich dabei nicht auf Aktionsmodelle berufen, die ich ihnen gegeben hätte, um
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