Gesammelte Werke
mich dann später davon zu distanzieren. Von solchen Modellen kann keine Rede sein.
Spiegel:
Gleichwohl ist es doch so, daß die Studenten sich manchmal sehr direkt, manchmal indirekt, auf Ihre Gesellschaftskritik berufen. Ohne Ihre Theorien wäre die studentische Protestbewegung vielleicht gar nicht entstanden.
Adorno:
Das möchte ich nicht leugnen; trotzdem ist dieser Zusammenhang für mich schwer zu übersehen. Ich würde schon glauben, daß etwa die Kritik gegen die Manipulation der öffentlichen Meinung, die ich auch in ihren demonstrativen Formen für völlig legitim halte, ohne das Kapitel »Kulturindustrie« in der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer und mir nicht möglich gewesen wäre. Aber ich glaube, man stellt sich oft den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis zu kurzschlüssig vor. Wenn man 20 Jahre mit dieser Intensität gelehrt und publiziert hat wie ich, geht das schon in das allgemeine Bewußtsein über.
Spiegel:
Und damit wohl auch in die Praxis?
Adorno:
Unter Umständen – das ist aber nicht notwendig so. In unseren Arbeiten wird der Wert von sogenannten Einzelaktionen durch die Betonung der gesellschaftlichen Totalität äußerst eingeschränkt.
Spiegel:
Wie wollen Sie aber die gesellschaftliche Totalität ohne Einzelaktionen ändern?
Adorno:
Da bin ich überfragt. Auf die Frage ›Was soll man tun‹ kann ich wirklich meist nur antworten ›Ich weiß es nicht‹. Ich kann nur versuchen, rücksichtslos zu analysieren, was ist. Dabei wird mir vorgeworfen: Wenn du schon Kritik übst, dann bist du auch verpflichtet zu sagen, wie man's besser machen soll. Und das allerdings halte ich für ein bürgerliches Vorurteil. Es hat sich unzählige Male in der Geschichte ereignet, daß gerade Werke, die rein theoretische Absichten verfolgen, das Bewußtsein und damit auch die gesellschaftliche Realität verändert haben.
Spiegel:
Sie haben doch in Ihren Arbeiten die kritische Theorie von beliebigen anderen Theorien abgesetzt. Sie soll nicht bloß empirisch die Wirklichkeit beschreiben, sondern gerade auch die richtige Einrichtung der Gesellschaft mit bedenken.
Adorno:
Hier ging es mir um die Kritik des Positivismus. Beachten Sie dabei, daß ich gesagt habe, mit
bedenken.
In diesem Satz steckt doch nicht, daß ich mir anmaßen würde zu sagen, wie man nun handelt.
Spiegel:
Aber Sie haben einmal gesagt, die kritische Theorie solle »den Stein aufheben, unter dem das Unwesen brütet«. Wenn die Studenten nun mit diesem Stein werfen – ist das so unverständlich?
Adorno:
Unverständlich ist es sicher nicht. Ich glaube, daß der Aktionismus wesentlich auf Verzweiflung zurückzuführen ist, weil die Menschen fühlen, wie wenig Macht sie tatsächlich haben, die Gesellschaft zu verändern. Aber ich bin ebenso überzeugt davon, daß diese Einzelaktionen zum Scheitern verurteilt sind; das hat sich auch bei der Mai-Revolte in Frankreich gezeigt.
Spiegel:
Wenn Einzelaktionen also sinnlos sind, bleibt dann nicht nur »kritische Ohnmacht«, wie sie der SDS Ihnen vorgeworfen hat?
Adorno:
Es gibt einen Satz von Grabbe, der lautet: »Denn nichts als nur Verzweiflung kann uns retten.« Das ist provokativ, aber gar nicht dumm. – Ich kann darin keinen Vorwurf sehen, daß man in der Welt, in der wir leben, verzweifelt, pessimistisch, negativ sei. Eher sind doch die Menschen beschränkt, die krampfhaft die objektive Verzweiflung durch den Hurra-Optimismus der unmittelbaren Aktion überschreien, um es sich psychologisch leichter zu machen.
Spiegel:
Ihr Kollege Jürgen Habermas, auch ein Verfechter kritischer Theorie, hat gerade jetzt in einem Aufsatz zugestanden, daß die Studenten »phantasiereichen Provokationismus« entfaltet haben und wirklich etwas zu ändern vermochten.
Adorno:
Darin würde ich Habermas zustimmen. Ich glaube, daß die Hochschulreform, von der wir im übrigen noch nicht wissen, wie sie ausgeht, ohne die Studenten überhaupt nicht in Gang gekommen wäre. Ich glaube, daß die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Verdummungsprozesse, die in der gegenwärtigen Gesellschaft vorwalten, ohne die Studentenbewegung sich niemals auskristallisiert hätte. Und ich glaube weiter – um etwas ganz Konkretes zu nennen –, daß nur durch die von Berliner Studenten geführte Untersuchung der Ermordung Ohnesorgs diese ganze grauenhafte Geschichte überhaupt ins öffentliche Bewußtsein gedrungen ist. Ich möchte damit sagen, daß ich mich keineswegs praktischen Konsequenzen verschließe, wenn sie mir
Weitere Kostenlose Bücher