Gesammelte Werke
Dialektik« finden wir die resignierte Feststellung: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.« Wird eine solche Philosophie – jenseits aller Konflikte – nicht zur »Narretei«? Eine Frage, die Sie selbst sich gestellt haben.
Adorno:
Ich glaube nach wie vor, daß man gerade unter dem allgemeinen Praxiszwang einer funktionalen pragmatisierten Welt an der Theorie festhalten sollte. Und ich lasse mich auch durch die jüngsten Ereignisse nicht von dem abbringen, was ich geschrieben habe.
Spiegel:
Bisher, so formulierte einmal Ihr Freund Habermas, hat sich Ihre Dialektik an den »schwärzesten Stellen« der Resignation, dem »destruktiven Sog des Todestriebes«, überlassen.
Adorno:
Ich würde eher sagen, daß der krampfhafte Hang zum Positiven aus dem Todestrieb kommt.
Spiegel:
Dann wäre es die Tugend der Philosophie, dem Negativen ins Auge zu sehen, aber nicht, es zu wenden?
Adorno:
Die Philosophie kann von sich aus keine unmittelbaren Maßnahmen oder Änderungen empfehlen. Sie ändert gerade, indem sie Theorie bleibt. Ich meine, man sollte doch einmal die Frage stellen, ob es nicht auch eine Form des Sich-Widersetzens ist, wenn ein Mensch die Dinge denkt und schreibt, wie ich sie schreibe. Ist denn nicht Theorie auch eine genuine Gestalt der Praxis?
Spiegel:
Gibt es nicht Situationen, wie zum Beispiel in Griechenland, in denen Sie, über kritische Reflexion hinaus, Aktionen befürworten würden?
Adorno:
In Griechenland würde ich selbstverständlich jede Art von Aktion billigen. Dort herrscht eine total andere Situation. Doch aus dem sicheren Hort zu raten, macht ihr mal Revolution, hat etwas so Läppisches, daß man sich genieren muß.
Spiegel:
Sie sehen also die sinnvollste und notwendigste Form Ihrer Tätigkeit in der Bundesrepublik nach wie vor darin, die Analyse der Gesellschaftsverhältnisse voranzutreiben?
Adorno:
Ja, und mich in ganz bestimmte Einzelphänomene zu versenken. Ich geniere mich gar nicht, in aller Öffentlichkeit zu sagen, daß ich an einem großen ästhetischen Buch arbeite.
Spiegel:
Herr Professor Adorno, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
1969
III
Aesthetica
Fußnote zu Sibelius und Hamsun *
Die gleiche Tendenz läßt sich mit technischer Strenge an den Symphonien Jan Sibelius' feststellen, die ihrer Beschaffenheit nach wie in ihrer Wirkung zu Hamsun gehören. Es ist nicht nur an die vage und dabei in den koloristischen Mitteln zurückgebliebene »panische« Naturstimmung zu denken, sondern an die kompositorischen Verfahrungsweisen selber. Diese Symphonik kennt keine musikalische Entwicklung. Sie schichtet sich aus wahllosen und zufälligen Wiederholungen eines an sich trivialen Motivmaterials. Der Schein der Originalität, der sich dabei ergibt, ist lediglich der Sinnlosigkeit zuzuschreiben, in welcher die Motive aneinandergerückt werden, ohne daß ihr Zusammenhang anders garantiert wäre als durch den abstrakten Zeitverlauf. Die Dunkelheit, Produkt des technischen Ungeschicks, täuscht eine Tiefe vor, die nicht existiert. Die konstruktiv undurchsichtigen Wiederholungen behaupten einen ewigen Rhythmus der Natur, den auch der Mangel an symphonischem Zeitbewußtsein ausdrückt; die Nichtigkeit der melodischen Monade, die in unartikuliertes Tönen übergeführt wird, entspricht der Menschenverachtung, welche die Hamsunschen Individuen der Allnatur ausliefert. Dabei unterscheidet sich Sibelius so gut wie Hamsun von impressionistischen Tendenzen dadurch, daß die Allnatur aus den erstarrten Restbeständen der traditionell bürgerlichen Kunst präpariert, nicht etwa von der protestierenden Subjektivität ursprünglich angeschaut wird.
Fußnoten
*
Adorno schrieb den kurzen Text aus Anlaß von Leo Löwenthals Aufsatz »Knut Hamsun. Zur Vorgeschichte der autoritären Ideologie« (vgl. Zeitschrift für Sozialforschung 6 [1937], S. 295ff.); er wurde als Anmerkung zu dem folgenden Satz Löwenthals abgedruckt: »Wenn von Lesern und Kritikern [scil. Knut Hamsuns] die Kärglichkeit des kulturellen Inventars und die Schattenhaftigkeit der von ihm gestalteten Menschen als Zeichen besonderer Keuschheit, reifer Herbe, lebensandächtiger Scheu und ›epischer Größe‹ verstanden wird, so drückt sich in solcher Lobrede auf den Schriftsteller eine müde Resignation, ein sozialer Defaitismus aus.« (a.a.O., S. 338)
[Erste Fassung:]
What National Socialism Has Done to
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