Geschichte des Westens: Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert (German Edition)
unmöglich machte.
Kurz nach der Reichstagswahl erschien ein Buch, das wie eine Antwort der Rechten auf den Sieg der Linken wirkte. Es trug den Titel «Wenn ich der Kaiser wär’» und war verfaßt von einem Autor, der sich «Daniel Frymann» nannte. Hinter dem Pseudonym verbarg sich der Mainzer Rechtsanwalt Heinrich Claß, der seit Februar 1908 an der Spitze des Alldeutschen Verbandes stand. Claß war ein typischer Vertreter des radikalen Nationalismus der Wilhelminischen Ära. 1904, im Jahr vor der ersten Marokkokrise, hatte er bereits einen Krieg zur Eroberung von Westmarokko propagiert. Während der zweiten Marokkokrise forderte er überdies die Abtretung großer Teile von Ostfrankreich. Zusammen mit Alfred Hugenberg, dem Vorsitzenden des Direktoriums der Firma Friedrich Krupp in Essen, hatte er den Alldeutschen Verband für die völkischen und antisemitischen Kräfte geöffnet. Was er in seinem Buch vom Frühjahr 1912 verkündete, war aber seine Botschaft, nicht die des Verbandes. Die Entscheidung, den Band pseudonym zu veröffentlichen, war also wohlbegründet.
Das «Kaiserbuch», das bis 1914 fünf Auflagen erlebte, berührte sich in vielem mit dem kurz vorher erschienenen Buch Bernhardis, das Claß ausdrücklich lobte. «Der Krieg sei uns heilig wie das läuternde Schicksal», lautete einer der Kernsätze. «Willkommen sei er uns als Arzt unserer Seelen, der mit stärksten Mitteln uns heilen wird.» Weder vor einem Krieg mit England noch vor einem mit Rußland brauche sich Deutschland zu fürchten. Frankreich müsse zerschmettert, Belgien ebenso wie die Niederlande unter Wahrung einer beschränkten Selbständigkeit dem Reich angeschlossen werden. «Der gordische Knoten muß durchhauen werden, er ist im Guten nicht zu lösen.»
In seinen innenpolitischen Forderungen war Claß sehr viel radikaler als Bernhardi. Er verlangte die Abschaffung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts zugunsten eines Fünf-Klassen-Wahlrechts, das auf Steuerzahler zu beschränken war, die Fernhaltung der Frauen vom politischen Leben, unbeugsamen Widerstand gegen die Demokratisierung Preußens, einen entschlossenen Kampf gegen die Polen und die Bereitschaft zum Staatsstreich gegen die Sozialdemokratie, diesen «Feind unseres Vaterlandes». Der letztere Schritt war freilich nur von einem «Kaiser als Führer» zu erwarten. Der Kaiser war die wünschenswerte, aber nicht unbedingt die einzig vorstellbare Verwirklichung des Führergedankens: «Wenn heute der Führer ersteht, wird er sich wundern, wie viele Getreue er hat – und wie wertvolle, selbstlose Männer sich um ihn scharen.»
Seine schärfsten Angriffe richtete Claß gegen die Juden. Sie verhielten sich ihrem innersten Wesen nach zu den Deutschen wie Wasser zu Feuer. Die Juden seien die «Träger und Lehrer des heute herrschenden Materialismus», die Theater und Presse beherrschten und den Ausgang der jüngsten «Judenwahlen» herbeigeführt hätten. Zur Abwehr der jüdischen Gefahr forderte der Autor, eine Einwanderung von Juden zu verbieten, die «landansässigen» Juden vom öffentlichen Leben auszuschließen, ihnen das aktive und passive Wahlrecht zu entziehen, sie unter Fremdenrecht zu stellen und Steuern in doppelter Höhe zahlen zu lassen, außerdem Juden den Dienst in Heer und Flotte und die Leitung von Theatern und Bankgesellschaften zu untersagen sowie den Zugang zu den Berufen des Anwalts und des Lehrers zu versperren, schließlich Zeitungen, an denen Juden mitarbeiteten, als solche kenntlich zu machen.
Claß besaß hohe Qualitäten als Demagoge. Ein «Populist» aber war er nicht. Mit seinen Tiraden sprach er nicht das Volk, sondern die höheren Schichten und namentlich die «akademisch Gebildeten» an, die die «geistigen Führer des Volkes» und das «Rückgrat des politischen Lebens» sein sollten. Seine Forderung, daß neben den «Adel der Geburt» ein «Adel des Verdienstes» treten müsse, war ebenso reaktionär wie der Ruf nach der Ersetzung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts durch ein Klassenwahlrecht. Auch mit seinem Antisemitismus wandte sich Claß in erster Linie an das gebildete Deutschland. Er monierte, daß die Zahl der jüdischen Studenten, ärzte, Anwälte und Journalisten weit über dem Anteil der Juden an der Gesamtbevölkerung liege, und sprach damit ein Faktum an, das sich vorzüglich dazu eignete, an Neidgefühle, Minderwertigkeitskomplexe und Abstiegsängste bei nichtjüdischen Studenten und Akademikern zu appellieren. Daß die Konzentration
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