Geschichte des Westens
Republik verbuchen konnten: der Einführung der gesetzlichen Arbeitslosenversicherung. Das einschlägige Gesetz, das am 7. Juli von einer überwältigenden Mehrheit des Reichstags beschlossen wurde, wandelte die bisherige staatliche Erwerbslosenfürsorge in eine Versicherung um, wobei Arbeitgeber und Arbeitnehmer ihre Beiträge in gleicher Höhe – damals 3 Prozent des Bruttolohnes – aufzubringen hatten. Aber es waren nicht nur die Faktoren Kapital und Arbeit, die die Kosten der Versicherung zu tragen hatten, sondern, ganz im Sinn der Bismarckschen Tradition, auch der Staat: Das Reich war verpflichtet, der neu errichteten Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung ein Darlehen zu gewähren, wenn ihr Finanzbedarf aus dem eigenen «Notstock» nicht zu befriedigen war. Daß eine Situation eintreten konnte, in der das Reich dadurch in große finanzielle Bedrängnis geraten würde, schien 1927 kaum jemandem vorstellbar.
Der Staat war in der Weimarer Republik ein höchst aktiver Teilnehmer des Wirtschaftslebens. Eine Verordnung auf Grund des Ermächtigungsgesetzes vom 13. Oktober 1923 hatte die staatliche Zwangsschlichtung von Tarifkonflikten eingeführt und den Staat damit zum Oberschiedsrichter in Arbeitskämpfen gemacht. Die Schlichtungsverordnung bewirkte, was der sozialdemokratische Theoretiker Rudolf Hilferding 1927 im Begriff des «politischen Lohnes» zusammenfaßte und als Ausdruck eines höher entwickelten, «organisierten Kapitalismus», ja als Schritt in Richtung auf den Sozialismus hin würdigte: eine weitgehende Außerkraftsetzung der Tarifautonomie und der Marktkräfte.
Die These des Wirtschaftshistorikers Knut Borchardt, daß die staatliche Zwangsschlichtung zu überhöhten Löhnen und damit wesentlich zur «Krankheit» der Weimarer Wirtschaft beigetragenhabe, hat eine lebhafte, bis heute nicht abgeschlossene Forschungsdebatte ausgelöst. Die Rolle des Staates als Oberschlichter, so viel ist unstrittig, war
ein
Beitrag zur Schwächung der Marktwirtschaft. Andere staatlichen Beiträge waren die Subventionen für die ostelbische Großlandwirtschaft in Gestalt von Schutzzöllen für Getreide und andere Agrarprodukte, die der Reichstag auf Betreiben der Deutschnationalen im August 1925 wieder einführte, und die direkten Zahlungen in Form der «Osthilfe», die ein großes Thema der späten Weimarer Republik werden sollten.
An der Aushebelung der Marktgesetze wirkten aber auch die industriellen Unternehmer durch eine umfassende Kartellbildung mit, die mit der Notwendigkeit der Rationalisierung und damit der Steigerung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands begründet wurde, tatsächlich aber vor allem den Wettbewerb im Innern zurückdrängte. Im Ergebnis führte die forcierte Rationalisierung zu beträchtlichen Überkapazitäten und schon vor Beginn der Großen Krise im Herbst 1929 zu hoher Arbeitslosigkeit: Die Zahl der verfügbaren Arbeitsuchenden bei den Arbeitsämtern lag im dritten Quartal 1929 bei 1,53 Millionen. Hilferdings Formel vom «organisierten Kapitalismus» erwies sich als Euphemismus: Es gibt gute Gründe, im Hinblick auf das Deutschland der Weimarer Republik von einem fehlorganisierten Kapitalismus zu sprechen.
Politisch begann die Zeit der «relativen Stabilisierung» der Weimarer Republik mit einem Ereignis, das eher auf Instabilität hindeutete: den Reichstagswahlen vom 4. Mai 1924. Sie brachten den Radikalen von rechts und links starke Gewinne und den meisten gemäßigten Parteien große Verluste. Die monarchistischen Deutschnationalen, die im Wahlkampf vor allem die inflationsgeschädigten Teile der Mittelschichten angesprochen hatten, steigerten ihren Stimmenanteil gegenüber der vorangegangenen Wahl vom Juni 1920 von 15,1 auf 19,5 Prozent. Sie wurden damit zur stärksten bürgerlichen Partei und zur zweitstärksten Partei überhaupt. Die mit den führerlosen Nationalsozialisten verbündete Deutschvölkische Freiheitspartei erzielte auf Anhieb 6,5 Prozent. Über ein Viertel der deutschen Wähler hatte sich damit für die antirepublikanische Rechte entschieden.
Links der Mitte war zweierlei bemerkenswert: Es gab eine starke Gewichtsverlagerung von den Sozialdemokraten zu den Kommunisten und einen erheblichen Rückgang der «marxistischen» Stimmen überhaupt.1920 hatten die Arbeiterparteien zusammen 41,7 Prozent der Stimmen erhalten, jetzt waren es noch 34 Prozent. Die SPD fiel von 21,7 auf 20,5 Prozent, was nur auf den ersten
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