Geschichte des Westens
nicht die Kraft, gewissermaßen «auf Anhieb» zur Politik des Klassenkompromisses mit der bürgerlichen Mitte zurückzukehren. Die Große Koalition, für die zuvor auch Stresemann eingetreten war, kam also nicht zustande.
Eine weitere Möglichkeit, von der bürgerlichen Minderheitsregierung zur parlamentarischen Mehrheitsregierung in Form eines Mitte-Links-Bündnisses überzugehen, hätte Mitte Dezember 1926 bestanden. Die Regierung Marx bot auf Drängen Stresemanns der SPD eine Große Koalition an, um eine von den Sozialdemokraten beantragte Wehrdebatte zu verhindern. Doch darauf ließ sich die SPD nicht ein. Am 16. Dezember 1926 hielt Philipp Scheidemann eine spektakuläre Reichstagsrede. Der ehemalige Reichsministerpräsident sprach zur Empörung aller bürgerlichen Parteien von der geheimen Rüstung und davon, wie deren Finanzierung verschleiert worden war; er schilderte das Zusammenspiel zwischen der Reichswehr und rechtsradikalen Organisationen; er erwähnte die sogenannte «Schwarze Reichswehr» in Gestalt von Kleinkaliberschützenvereinen, mit deren Hilfe die Reichswehr ihre Beschränkung auf ein Hunderttausend-Mann-Heer umging. Die Kommunisten versetzte Scheidemann mit dem Hinweis in höchste Erregung, daß ihre Stettiner Hafenzelle über die Entladung jener sowjetischen Schiffe voll informiert gewesen sei, die im September und Oktober Waffen und Munition nach Deutschland gebracht hätten.
Am Tag nach Scheidemanns Rede, am 17. Dezember 1926, stürzte der Reichstag die Regierung Marx mit 249 gegen 171 Stimmen. Für den Mißtrauensantrag der SPD stimmten auch die Völkischen, die Deutschnationalen und die Kommunisten. Die Frage einer Großen Koalition hatte sich durch die Rede des ehemaligen Regierungschefserledigt. Es gab in den bürgerlichen Parteien niemanden mehr, der sich für eine solche Krisenlösung eingesetzt oder sie auch nur ernsthaft erwogen hätte. Das Resultat der Regierungskrise vom Winter 1926/27 war eine Mitte-Rechts-Regierung unter Wilhelm Marx, die am 29. Januar 1927 ihre Arbeit aufnahm. Die Deutschnationalen stellten die Minister für Inneres, Justiz, Landwirtschaft und Verkehr. Das Innenressort leitete nun ein Mann, der im März 1920 als Landrat von Königsberg in der Neumark mit der Putschregierung Kapp-Lüttwitz zusammengearbeitet hatte: Walter von Keudell. Wider Willen hatte die SPD durch ihre Taktik das bisher am weitesten rechts stehende Kabinett der Weimarer Republik an die Macht gebracht.
Außenminister blieb auch im zweiten Bürgerblockkabinett Gustav Stresemann. Mit seinem Namen waren zwei Ereignisse des Jahres 1926 verbunden, die in engem Zusammenhang mit dem Vertrag von Locarno standen: der Berliner Vertrag mit der Sowjetunion und die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Der deutsch-sowjetische Vertrag, den der Reichstag am 10. Juni 1926 nahezu einstimmig annahm, war zum einen dazu bestimmt, das Moskauer Mißtrauen gegen die deutsche Locarnopolitik auszuräumen. Zum anderen sollte das Abkommen den Druck auf Warschau erhöhen. Die Vertragspartner sicherten sich wechselseitige Neutralität für den Fall zu, daß einer von ihnen trotz friedlichen Verhaltens von dritten Mächten angegriffen wurde. Sie verpflichteten sich darüber hinaus, keiner Koalition beizutreten, die über die andere Macht einen wirtschaftlichen und finanziellen Boykott verhängen wollte. Deutschland versprach der Sowjetunion, was es sich im Jahr zuvor von den Westmächten ausbedungen hatte: die faktische Nichtbeteiligung an etwaigen Völkerbundssanktionen gegen Moskau. Ansonsten sollte der Vertrag von Rapallo aus dem Jahr 1922 die Grundlage der deutsch-sowjetischen Beziehungen bleiben.
Das zweite große außenpolitische Ereignis von 1926 fand am 10. September in Genf statt: Deutschlands Eintritt in den Völkerbund. Das Reich wurde, wie es die deutschen Regierungen beharrlich gefordert hatten, sogleich Mitglied des wichtigsten Organs, des Völkerbundrates, während Polen, der Hauptkonkurrent im Ringen um einen solchen Status, sich mit einem nichtständigen Sitz und der Zusage seiner Wiederwahl in dieses Gremium begnügen mußte. Die Sozialdemokraten, die früher und konsequenter als irgendeine andere deutschePartei sich für den Beitritt zum Völkerbund eingesetzt hatten, feierten die Erreichung dieses Ziels als Sternstunde: Der «Vorwärts» sprach sogar von einem «weltgeschichtlichen Sprung».
Eine Woche nach der feierlichen Zeremonie im Genfer Völkerbundspalast, am 17. September,
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