Geschichte des Westens
erst Finanzminister Hilferding und dann nochmals die Sachverständigen der Fraktionen die Vorausschätzungen der Steuereinnahmen nach oben korrigierten. Der ausschlaggebende Grund der überraschenden Verständigung aber war ein außenpolitischer: Anfang Februar hatten in Paris Reparationsverhandlungen begonnen. Das Dawes-Abkommen von 1924 war ja nur eine provisorische Regelung, die die Gesamthöhe der Reparationen noch offen ließ, und 1928/29 erreichten die Jahreszahlungen nach dem Dawes-Plan, die Annuitäten, erstmals ihre volle Höhe, nämlich 2,5 Milliarden Reichsmark.
An einer Minderung dieser Last waren angesichts einer sich verschlechternden Konjunktur alle Regierungsparteien interessiert. Doch auch der Reparationsagent arbeitete auf eine Revision des Dawes-Plans hin. Solange Parker Gilbert darüber zu befinden hatte, ob die deutsche Zahlungsbilanz und die Stabilität der Mark einen Transfer der Reparationen rechtfertigten oder nicht, konnten sich die Deutschen gewissermaßen hinter ihm verstecken. Gilbert hielt das fürschädlich und wollte durch ein neues Abkommen Deutschland zu wirtschaftlicher und finanzieller Selbstverantwortung zwingen.
Das Ergebnis der Pariser Verhandlungen war der Young-Plan, benannt nach dem amerikanischen Bankier Owen D. Young, dem Leiter der Expertenkonferenz, die am 7. Juni 1929 zu Ende ging. Der Übereinkunft der Sachverständigen zufolge sollte Deutschland bis 1988, also fast sechs Jahrzehnte lang, Reparationen zahlen. Während der ersten zehn Jahre lagen die Annuitäten unter der Durchschnittshöhe von 2 Milliarden RM, stiegen dann an, um nach 37 Jahren wieder abzusinken. Eine ausländische Kontrolle der deutschen Finanzen war nicht mehr vorgesehen, ebensowenig die Verpfändung von Industrieobligationen und Reichseinnahmen.
Was die Verantwortung für den Transfer anging, trat an die Stelle des Reparationsagenten die Reichsregierung. Ihr wurde die Möglichkeit eingeräumt, zwischen dem «geschützten» und dem «ungeschützten» Teil der Reparationen zu unterscheiden, wobei sie den zweiten unbedingt und fristgerecht zu zahlen hatte, beim ersten aber einen Aufschub bis zu zwei Jahren beantragen konnte. Empfänger der Zahlungen war eine neu zu errichtende Stelle: die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich in Basel. Geriet Deutschland in Zahlungsschwierigkeiten, so konnte es bei einem internationalen Sachverständigenausschuß vorstellig werden. Dieser mußte auch, wenn Deutschland sich wirtschaftlich nicht in der Lage sah, seinen Reparationspflichten nachzukommen, Vorschläge zu einer Revision des Young-Plans beraten. Auch für eine weitere Eventualität war gesorgt: Sollten die USA ihren interalliierten Schuldnern einen Schuldennachlaß gewähren, so waren davon zwei Drittel auf die deutsche Reparationslast anzurechnen.
Für Deutschland hatte der Young-Plan gegenüber dem Dawes-Plan einen großen Vorteil: Er stellte seine Souveränität auf wirtschaftspolitischem Gebiet wieder her. Ein Nachteil war hingegen der Wegfall des Transferschutzes: Anders als bisher mußte das Reich auch bei einer wirtschaftlichen Depression Reparationen zahlen. Die Aussicht, 58 Jahre lang zu Zahlungen an die ehemaligen Kriegsgegner verpflichtet zu sein, war bedrückend. Aber es gab einen politischen Ausgleich für diese Härte: Das Ja der Reichsregierung zum Young-Plan veranlaßte Frankreich, Deutschland in der Rheinlandfrage entgegenzukommen. Zum Abschluß einer Konferenz in Den Haag, an der Großbritannien, Frankreich, Italien, Belgien, Japan und Deutschland teilnahmen,wurde am 30. August 1929 ein Abkommen über die vorzeitige Räumung des Rheinlandes unterzeichnet. Aus der zweiten Zone (die erste Zone war bereits im Winter 1925/26 geräumt worden) sollten die alliierten Truppen bis zum 30. November 1929 abziehen. Die dritte und letzte Zone war zum 30. Juni 1930, fünf Jahre vor dem im Vertrag von Versailles vorgesehenen Termin, zu räumen.
Deutschlands extreme Rechte wartete das Ergebnis der Haager Verhandlungen gar nicht erst ab. Am 9. Juli 1929 trat in Berlin ein «Rechtsausschuß für das Deutsche Volksbegehren» zusammen. Beteiligt waren für den Alldeutschen Verband Heinrich Claß, für den «Stahlhelm», den Ende 1918 gegründeten paramilitärischen «Bund der Frontsoldaten», dessen Führer Franz Seldte, für die DNVP der Film-und Pressemagnat Alfred Hugenberg, der seit Oktober 1928 an der Spitze der Partei stand, und für die NSDAP Adolf Hitler. Sie unterzeichneten
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