Geschichte des Westens
eine Erklärung, die das deutsche Volk zum Kampf gegen den Young-Plan und die «Kriegsschuldlüge» aufrief und die Vorlage eines entsprechenden Volksbegehrens ankündigte.
Während die Rechte ihre Kräfte sammelte, vertiefte sich die Kluft, die die gemäßigte von der radikalen Linken trennte. Seit dem Sechsten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale im Sommer 1928, auf den zurückzukommen sein wird, galt der Kampf gegen die angeblich verbürgerlichte, ja dem Faschismus immer ähnlicher werdende Sozialdemokratie als vorrangige Aufgabe aller kommunistischen Parteien. Möglicherweise wäre diese Devise für die KPD eine abstrakte Formel geblieben, hätte nicht der Berliner Polizeipräsident, der Sozialdemokrat Karl Friedrich Zörgiebel, im Frühjahr 1929 im Kampf gegen die äußerste Linke Methoden angewandt, die der neuen «ultralinken» Generallinie der Komintern den Schein einer Rechtfertigung verschafften. Zörgiebel hielt ein Verbot aller Versammlungen und Demonstrationen unter freiem Himmel, das er in Gefolge einer Welle von gewaltsamen Auseinandersetzungen im Dezember 1928 verhängt hatte, auch für den 1. Mai, den traditionellen «Kampftag» der Arbeiter, aufrecht. Die Kommunisten mißachteten das Verbot, errichteten vereinzelt Barrikaden und lieferten damit der Polizei den Anlaß, mit äußerster Brutalität, unter Einsatz von Panzerwagen und Schußwaffen, gegen die äußerste Linke vorzugehen. Die Bilanz der Aktion waren 32 Tote, allesamt Zivilisten, außerdem fast 200 Verletzte und weit über 1000 Verhaftungen.
Dem Polizeieinsatz folgte, von Preußen ausgehend, eine administrative Maßnahme: das reichsweite Verbot des Roten Frontkämpferbundes, des 1924 gegründeten kommunistischen Wehrverbandes. Die KPD gab ihre Antwort im Juni 1928 in dem Berliner Stadtteil, wo Anfang Mai die heftigsten Kämpfe stattgefunden hatten: im Wedding. Dorthin wurde ein Parteitag einberufen, der ursprünglich in Dresden hatte zusammentreten sollen. Der «Blutmai» und das Verbot des Roten Frontkämpferverbandes dienten der Parteiführung als Beleg, daß die Sozialdemokratie auf dem Weg zum «Sozialfaschismus» sei. Ernst Thälmann, der sich auf dem Parteitag als Führer des revolutionären deutschen Proletariats feiern ließ, ging noch weiter: Er nannte den «Sozialfaschismus» der SPD eine besonders gefährliche Form der faschistischen Entwicklung.
Die politische Radikalisierung auf der Linken hing eng mit der zunehmenden Erwerbslosigkeit zusammen. Der Rückgang der Konjunktur ließ die Zahl der Arbeitslosen im Februar 1929 erstmals auf über 3 Millionen anschwellen, und die übliche Erholung im Frühjahr fiel nur schwach aus: Im März gab es immer noch 2,7 Millionen Arbeitslose. Die Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung konnte aus den Beiträgen lediglich 800.000 Empfänger der «Hauptunterstützung» versorgen und war daher gezwungen, einen Kredit beim Reich aufzunehmen. Da die Mittel aus der Reichskasse nicht beizubringen waren, blieb dem Finanzminister nichts anderes übrig, als die Hilfe eines Bankenkonsortiums in Anspruch zu nehmen. Nur auf diesem ungewöhnlichen Weg konnte der Zusammenbruch der Reichsanstalt im März 1929 verhindert werden.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt war klar, daß es ohne Reform der Arbeitslosenversicherung eine Sanierung der Reichsfinanzen nicht geben konnte. Doch nirgendwo lagen die Positionen der beiden Flügelparteien der Großen Koalition so weit auseinander wie im Bereich der sozialen Sicherheit: Die SPD sprach sich, in Übereinstimmung mit den Freien Gewerkschaften, für eine Erhöhung der Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aus. Die DVP lehnte das, mit Rücksicht auf die Unternehmer, strikt ab und verlangte statt dessen eine Senkung der Leistungen.
Bis Ende September 1929 kam es trotz zahlreicher Expertengespräche zu keiner Annäherung der Standpunkte. Am 1. Oktober deutete Reichskanzler Müller erstmals die Möglichkeit seines Rücktritts fürden Fall an, daß der Regierung eine Lösung des Problems nicht gelingen sollte. Doch am selben Tag lenkte die DVP ein: Wenn SPD und Zentrum sich bereit erklärten, die von ihnen befürwortete Erhöhung der Beiträge um ein halbes Prozent bis Dezember zu vertagen, wollte die Volkspartei einer Vorlage, die die Unterstützungssätze senkte und Mißstände in der Arbeitslosenversicherung beseitigte, durch Stimmenthaltung zur Annahme verhelfen. Sozialdemokraten und Zentrum ließen sich auf
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