Geschichte des Westens
diesen Kompromiß ein, so daß die entsprechende Gesetzesnovelle am 3. Oktober im Reichstag eine Mehrheit fand. Die Große Koalition hatte ihre bislang schwerste Belastungsprobe bestanden.
Der Politiker, der am meisten dazu beigetragen hatte, die Regierung Müller zu retten, lebte, als der Reichstagspräsident das Ergebnis der Abstimmung bekanntgab, nicht mehr: Gustav Stresemann war am frühen Morgen des 3. Oktober 1929 im Alter von 51 Jahren einem Schlaganfall erlegen. Seit langem gesundheitlich geschwächt, hatte der deutsche Außenminister seine letzten Kraftreserven eingesetzt, um einen Regierungswechsel zu verhindern, der seiner Verständigungspolitik den Boden zu entziehen drohte. Um seine Außenpolitik nach «rechts» hin abzusichern, war Stresemann mitunter nationalistischer aufgetreten, als es seinen Auffassungen entsprach. Doch er hielt daran fest, daß die erstrebte Revision von Versailles keinen Krieg rechtfertigte. Die Bedingung der Möglichkeit einer Außenpolitik, die dieser Maxime folgte, war die Zusammenarbeit der gemäßigten Kräfte in Bürgertum und Arbeiterschaft. Weil Stresemann dies wußte, war er der entschiedenste Anwalt einer Großen Koalition in seiner Partei. Nach seinem Tod stand dieses Bündnis auf einer noch schwächeren Grundlage als zuvor. Der einzige Staatsmann, den die Weimarer Republik hervorgebracht hat, sollte sich bald als außen- wie innenpolitisch unersetzbar erweisen.
Viereinhalb Wochen nach Stresemanns Tod, am 2. November 1929, stand fest, daß der Versuch der äußersten Rechten, den Young-Plan auf plebiszitärem Weg zu Fall zu bringen, die erste Hürde, wenn auch nur knapp, genommen hatte: 4,1 Millionen oder 10,02 Prozent der Stimmberechtigen hatten sich in die ausliegenden Listen des Volksbegehrens eingetragen. Das waren 0,02 Prozentpunkte über dem von der Reichsverfassung vorgeschriebenen Quorum von 10 Prozent. Der Gesetzesentwurf des Reichsausschusses für das Deutsche Volksbegehren bedrohte «Reichskanzler, Reichsminister und deren Bevollmächtigte»,die den Young-Vertrag unterschrieben, mit der Strafe für Landesverrat, nämlich Zuchthaus nicht unter zwei Jahren. Daß der Reichstag diesen Vorstoß mit überwältigender Mehrheit ablehnen würde, stand von vornherein fest. Mit Spannung wurde lediglich das Abstimmungsverhalten der DNVP erwartet. Nach mehrtägiger Debatte stimmten am 30. November von den anwesenden 72 Abgeordneten der Deutschnationalen nur 53 für den Zuchthausparagraphen. Die scharfen Gegenmaßnahmen Hugenbergs gegen die Abweichler führten zur Spaltung der Fraktion. Zwölf Abgeordnete, unter ihnen der ehemalige Reichsminister Walter von Keudell, der Gutsbesitzer Hans von Schlange-Schöningen, der Vorsitzende des Deutschnationalen Handlungsgehilfen-Verbandes, Walter Lambach, und der ehemalige Kapitänleutnant Gottfried Treviranus, erklärten ihren Austritt aus der Partei und gründeten die Deutschnationale Arbeitsgemeinschaft. Der Fraktionsvorsitzende Graf Westarp legte unter Protest gegen die Politik Hugenbergs sein Amt nieder.
Am 27. Dezember fand der nach der Ablehnung des Reichstags unumgängliche Volksentscheid statt. 5,8 Millionen oder 13,8 Prozent stimmten für den Gesetzentwurf. Um angenommen zu werden, wären 21 Millionen Ja-Stimmen erforderlich gewesen. Am Mißerfolg des Reichsausschusses gab es also nichts zu deuteln. Doch in 9 der 35 Wahlkreise lag der Stimmenanteil der Befürworter über einem Fünftel. Noch wichtiger war, daß es Adolf Hitler durch seine Mitwirkung im Reichsausschuß gelungen war, von der «guten Gesellschaft» akzeptiert, also «salonfähig» zu werden. Seine Partei profitierte infolgedessen auch von den Geldmitteln, mit denen schwerindustrielle und agrarische Kreise Volksbegehren und Volksentscheid unterstützt hatten.
Auch andere Anzeichen deuteten im Spätherbst darauf hin, daß sich die Nationalsozialisten im Aufwind befanden. Bei den Landtagsund Kommunalwahlen vom November und Dezember 1929 erzielten sie große Stimmengewinne. In einem Land, in Thüringen, stellten sie seit Januar 1930 sogar in einer Regierung, an der auch DNVP und DVP beteiligt waren, ein Kabinettsmitglied: Wilhelm Frick als Innen- und Volksbildungsminister. Um dieselbe Zeit begann die Partei Hitlers, die deutschen Universitäten zu erobern. Der Nationalsozialistische Deutsche Studentenbund war der große Gewinner bei den Wahlen zu den Allgemeinen Studentenausschüssen im Wintersemester 1929/30.In Würzburg kam er auf 30, an der
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