Geschichte des Westens
Technischen Hochschule Berlin auf 38, in Greifswald sogar auf 53 Prozent.
Der Rechtsruck bei den Studenten war ein Ausdruck von sozialem Protest. Eine junge Akademikergeneration lehnte sich gegen ihre «Proletarisierung» auf und sagte dem «System» den Kampf an, das sie für ihre materielle Not und ihre unsicheren Berufsaussichten verantwortlich machte. Haß auf den Staat von Weimar und Abneigung gegenüber den Juden gingen Hand in Hand. Die Juden machten zwar nur 1 Prozent der deutschen Bevölkerung aus, stellten aber 4 bis 5 Prozent der Studierenden; in manchen Fachbereichen wie Medizin und Rechtswissenschaften und an einigen Universitäten wie Frankfurt am Main und Berlin lagen die Prozentzahlen noch höher. Aus Sicht vieler ihrer nichtjüdischen Kommilitonen bedeutete das nichts anderes, als daß die Juden ungerechtfertigte Privilegien in Anspruch nahmen. Der Vormarsch der nationalsozialistischen Studentenorganisation beruhte nicht zuletzt auf einer massenhaften Mobilisierung von sozialen Neidgefühlen.
Die wirtschaftlichen Gründe des Zulaufs zur extremen Rechten lagen Ende 1929 offen zutage. Die Agrarkrise hatte sich weiter zugespitzt und zu einer Radikalisierung der bäuerlichen Landvolkbewegung in Norddeutschland geführt: Bombenattentate auf Finanz- und Landratsämter machten seit dem Frühjahr vor allem in Schleswig-Holstein immer wieder Schlagzeilen. Die Zahl der Arbeitsuchenden in ganz Deutschland stieg von 1,5 Millionen im September auf 2,9 Millionen im Dezember und lag damit um 350.000 höher als im gleichen Monat des Vorjahres. Die Aktienkurse hatten, wenn man das Niveau der Jahre 1924 bis 1926 gleich 100 setzt, im Boomjahr 1927 mit 158 ihren Höhepunkt erreicht. Dann fielen sie auf 148 Punkte im Jahr 1928 und 134 Punkte im Jahr 1929. Die schrillsten Alarmzeichen kamen aus Amerika. Am 24. Oktober 1929 gaben an der New Yorker Börse die Aktienkurse auf breiter Front und in einem Ausmaß nach, das einem Erdrutsch gleichkam. Unmittelbar darauf begannen die amerikanischen Banken, das Geld zurückzufordern, das sie in Europa und vor allem in Deutschland meist nur kurzfristig angelegt hatten.
Nicht nur für Kommunen und Länder, auch für das Reich wurde es nun immer schwieriger, Anleihen aufzunehmen. Dem Reichsbankpräsidenten Schacht, der Ende 1918 an der Gründung der DDP beteiligt gewesen war, sich inzwischen aber der politischen Rechten angenähert hatte, kam die Finanznot wie gerufen. Er nutzte ein drohendes Kassendefizitdes Reiches, um die Regierung der Großen Koalition ultimativ auf eine langfristige Sanierung der Reichsfinanzen festzulegen. Unterstützt vom Reparationsagenten, zwang er Mitte Dezember Reichsregierung und Reichstag, für den Reichshaushalt 1930 eine Schuldentilgungssumme von 450 Millionen Reichsmark vorzusehen.
Erst nachdem der Reichstag dies am 22. Dezember beschlossen hatte, erhielt die Reichsregierung von einem deutschen Bankenkonsortium unter Führung der Reichsbank den Überbrückungskredit, der das Reich vor der Zahlungsunfähigkeit bewahrte. Das von der Großen Koalition beschlossene, vom Reichstag unter Vorbehalt bewilligte Finanzprogramm, zu dem die Anhebung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 3 auf 3,5 Prozent, die Erhöhung der Tabaksteuer und die Senkung der direkten Steuern zwecks verstärkter Kapitalbildung gehörten, konnte in Kraft treten. Reichsfinanzminister Rudolf Hilferding war zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr im Amt: Er war am 21. Dezember aus Protest gegen den Eingriff Schachts zurückgetreten. Hilferdings Nachfolge übernahm der Wirtschaftswissenschaftler Paul Moldenhauer von der DVP, der erst einige Wochen zuvor, am 11. November, an die Spitze des Reichswirtschaftsministeriums getreten war, nachdem der bisherige Amtsinhaber, Julius Curtius, als Nachfolger Stresemanns zum Außenminister ernannt worden war.
Die parlamentarische Demokratie der Weimarer Republik steckte, daran gab es um die Jahreswende 1929/30 keinen Zweifel mehr, in einer schweren Krise. Nicht nur der Konflikt zwischen dem Reichsbankpräsidenten und der Reichsregierung machte das deutlich. Es gab auch Anzeichen, daß sich große Teile der «Machtelite» von der Reichsregierung, wenn nicht gar von der parlamentarischen Regierungsweise abzuwenden begannen. Die Großlandwirtschaft mit dem Reichslandbund als Interessenvertretung war von Anfang an eine Gegnerin der Großen Koalition gewesen. Der Reichsverband der Deutschen Industrie richtete im Dezember 1929 in
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