Geschichte des Westens
einer Denkschrift unter dem Titel «Aufstieg oder Niedergang?» ultimativ klingende Forderungen an das Kabinett Müller, darunter eine Anpassung der Sozialpolitik an die Leistungskraft der Wirtschaft und ein Vetorecht der Reichsregierung gegen Ausgabenerhöhungen durch den Reichstag. Reichswehrminister Groener und sein engster Berater, der Chef des neugeschaffenen Ministeramtes, General Kurt von Schleicher, arbeiteten spätestens seit Ende 1929 im Zusammenspiel mit dem Staatssekretär im Amt des Reichspräsidenten,Otto Meissner, auf eine Regierung ohne Sozialdemokraten hin, die nach Lage der Dinge nur ein Präsidialkabinett sein konnte.
Hindenburg selbst hatte sich schon im Frühjahr 1929 für eine solche Kurskorrektur ausgesprochen: Graf Westarp, damals noch Fraktionsvorsitzender der DNVP, war einer der ersten, die von dieser Absicht des Reichspräsidenten erfuhren. Zu Beginn des Jahres 1930 wurde Hindenburg deutlicher. Am 6. Januar erkundigte er sich bei Hugenberg und am 15. Januar bei Westarp, ob die Deutschnationalen direkt oder indirekt ein vom Reichspräsidenten zu bildendes Kabinett ohne die Sozialdemokraten unterstützen würden, wenn es wegen der Finanzreform zu einer Regierungskrise kommen sollte. Der Parteivorsitzende der DNVP äußerte sich ablehnend, der zurückgetretene Fraktionsvorsitzende zustimmend.
Was das Regierungslager um diese Zeit noch zusammenhielt, war das gemeinsame Interesse aller beteiligten Parteien an der Verabschiedung der Young-Gesetze. Am 20. Januar 1930 wurde der Young-Plan, nachdem die Details monatelang in Unterausschüssen der Expertenkonferenz beraten worden waren, in Den Haag verabschiedet. Für Deutschland war am wichtigsten, daß das Zahlungsschema und die Zahlungssumme so blieben, wie es die Sachverständigen im Juni 1929 vorgeschlagen hatten. Am 28. Januar begann das letzte Kapitel in der Geschichte der Großen Koalition: Auf Vorschlag Heinrich Brünings, der im Dezember zum Vorsitzenden der Reichstagsfraktion gewählt worden war, beschloß das Zentrum, seine Zustimmung zum Young-Plan von einer Einigung auf die Finanzreform abhängig zu machen. Brünings Junktim war weder eine Absage an die Große Koalition noch an das neue Reparationsabkommen. Es war der Versuch, die außenpolitische Klammer des Regierungsbündnisses zum Hebel für die Sanierung der Reichsfinanzen zu machen.
Bei der SPD gab es einige Abgeordnete, die ein Gegenjunktim forderten: eine Finanzreform mit sozialdemokratischer Handschrift als Bedingung für die Zustimmung zu den Young-Gesetzen. Die große Mehrheit aber lehnte eine solche Verknüpfung von Innen- und Außenpolitik ab und schwächte so ungewollt die Verhandlungsposition der größten Regierungspartei. Auf dem rechten Flügel der Koalition weigerte sich die DVP, bei der Arbeitslosenversicherung weitere Zugeständnisse zu machen, die direkten Steuern zu erhöhen und ein (auch vom Reichspräsidenten befürwortetes) Notopfer der Beamten undanderer Festbesoldeter einzuführen. Am 5. März aber kam es, für die Beteiligten überraschend, im Kabinett doch noch zu einer Verständigung über die Deckungsvorschläge für den Reichshaushalt 1930. Finanzminister Moldenhauer von der DVP stimmte der von der SPD geforderten direkten Besitzsteuer in Gestalt einer Erhöhung der «Industriebelastung» (die nach dem Inkrafttreten der Young-Gesetze eigentlich wegfallen sollte) von 300 auf 350 Millionen RM zu. Außerdem sollte die Reichsanstalt autonom die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung von 3,5 auf 4 Prozent erhöhen können. Die Minister der SPD konzedierten dafür ihrerseits, daß es 1931 keine Rückerstattung der Lohnsteuer geben sollte.
Die Einigung im Kabinett war ein Triumph der Gemäßigten aller Lager, aber sie war auf Sand gebaut. Am 6. März lehnte die Reichstagsfraktion der DVP, unterstützt von der Vereinigung der Arbeitgeberverbände und vom Reichsverband der Deutschen Industrie, den Regierungskompromiß in wesentlichen Punkten ab. Die Bayerische Volkspartei, die im Kabinett Müller den Postminister stellte, erteilte der vorgesehenen Erhöhung der Biersteuer eine Absage. Am 10. und 11. März schaltete sich erneut der Reichspräsident ein: In Gesprächen mit Brüning und Müller erklärte er seine Bereitschaft, der Regierung die Vollmachten des Artikels 48 der Reichsverfassung zu gewähren. Damit schien der Zweck von Brünings Junktim, die Verbindung von Reparationsregelung und Finanzreform, erfüllt. Am 12. März wurden die
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