Geschöpfe der Nacht
neue Programm ab – nur Chris Isaak, die ganze Zeit über. Spiel ›Dancin’‹ für mich, okay?« Er gab mir den Hörer. »Ist für dich, Hobbydetektiv.«
Mir gefällt Sashas Diskjockey-Stimme. Sie unterscheidet sich nur schwach von ihrer richtigen, ist marginal tiefer und weicher und samtener, aber die Wirkung ist durchschlagend. Wenn ich den Deejay Sasha höre, will ich mich im Bett an sie kuscheln. Ich will mich sowieso im Bett an sie kuscheln, so oft wie möglich, aber wenn ich ihre Radiostimme höre, will ich mich so schnell wie möglich an sie kuscheln. Diese Stimme hat sie von dem Augenblick an, in dem sie das Studio betritt, und sie behält sie auch dann, wenn sie nicht auf Sendung ist, bis sie das Studio wieder verläßt.
»Der Song hört in etwa einer Minute auf, und ich muß zwischen den Stücken ein paar Sprüche loslassen«, sagte sie zu mir, »also mache ich’s kurz. Jemand kam vor ein paar Minuten hier zum Sender. Er will sich mit dir in Verbindung setzen, behauptet, es gehe um Leben und Tod.«
»Wer?«
»Ich darf den Namen am Telefon nicht nennen. Habe es versprochen. Als ich sagte, daß du wahrscheinlich bei Bobby bist… diese Person wollte dich dort nicht anrufen und auch nicht hinausfahren.«
»Warum nicht?«
»Weiß ich nicht genau. Aber… diese Person war wirklich nervös, Chris. ›Ich war mit der Nacht vertraut.‹ Weißt du, wen ich meine?«
Ich war mit der Nacht vertraut.
Das war eine Zeile aus einem Gedicht von Robert Frost.
Mein Dad hatte mir seine Leidenschaft für Lyrik eingeimpft. Ich wiederum hatte Sasha damit infiziert.
»Ja«, sagte ich. »Ich glaube, ich weiß, wen du meinst.«
»Die Person will dich so schnell wie möglich sprechen. Behauptet, es gehe im Leben und Tod. Was ist los, Chris?«
»Am Sonntagnachmittag kommen hohe Wellen«, sagte ich.
»Das habe ich nicht gemeint.«
»Ich weiß. Den Rest erzähle ich dir später.«
»Hohe Wellen. Werde ich damit fertig?«
»Vier-Meter-Brecher.«
»Dann zieh ich mir wohl nur einen Bikini an und gehe auf ‘ne Strandparty.«
»Ich liebe deine Stimme«, sagte ich.
»So sanft und ruhig wie die Bucht.«
Sie legte auf, und ich auch.
Obwohl Bobby nur meine Hälfte des Gesprächs mitbekommen hatte, verließ er sich auf seine unheimliche Intuition, um den Tonfall und die Absicht von Sashas Anruf herauszufinden. »Worauf läßt du dich da ein?«
»Nur ein Fall für ›Die drei Fragezeichen‹«, sagte ich. »Interessiert dich nicht.«
Als Bobby und ich einen noch immer unruhigen Orson zur Veranda führten, fing das Radio in der Küche mit »Dancin’« von Chris Isaak zu swingen an.
»Sasha ist ‘ne tolle Frau«, sagte Bobby.
»Unglaublich toll«, sagte ich zustimmend.
»Wenn du tot bist, kannst du nicht mit ihr zusammen sein. So pervers ist sie nicht.«
»Einwand zur Kenntnis genommen.«
»Hast du deine Sonnenbrille?«
Ich schlug auf die Hemdtasche. »Ja.«
»Hast du dich mit meiner Sonnencreme eingerieben?«
»Ja, Mutter.«
»Ekel.«
»Ich habe gedacht…«, sagte ich.
»Wird auch Zeit, daß du damit anfängst.«
»Ich habe an dem neuen Buch gearbeitet.«
»Endlich hast du deinen faulen Arsch aufgerafft.«
»Es geht um Freundschaft.«
»Spiele ich mit?«
»Erstaunlicherweise ja.«
»Aber du benutzt doch nicht meinen richtigen Namen, oder?«
»Ich nenne dich Igor. Die Sache ist nur… ich befürchte, daß die Leser keine Beziehung zu dem finden, was ich zu sagen habe, weil du und ich – all meine Freunde – so völlig unterschiedliche Leben führen.«
Bobby blieb am oberen Absatz der Verandatreppe stehen und warf mir seinen patentierten verächtlichen Blick zu. »Ich dachte, man müßte klug sein, um Bücher zu schreiben.«
»Das ist nicht gesetzlich vorgeschrieben.«
»Offensichtlich nicht. Selbst das literarische Äquivalent eines Gyrospasti sollte wissen, daß jeder einzelne von uns ein anderes Leben führt.«
»Ach ja? Maria Cortez führt ein anderes Leben?«
Maria ist Manuel Ramirez’ jüngere Schwester, wie Bobby und ich achtundzwanzig Jahre alt. Sie ist Kosmetikerin, und ihr Mann arbeitet als Automechaniker. Sie haben zwei Kinder, eine Katze und ein kleines Reihenhaus mit einer großen Hypothek.
»Sie lebt ihr Leben nicht im Kosmetikstudio, während sie jemandem die Haare macht«, sagte Bobby, »und auch nicht zu Hause, während sie den Teppich saugt. Sie lebt ihr Leben zwischen ihren Ohren. In ihrem Schädel ist eine ganze Welt, und zwar wahrscheinlich eine seltsamere und
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