Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
zogen, nicht wenige trotz ihrer antiklerikalen Einstellung, wenn sie sich unbeobachtet wähnten, in einer Kapelle eine Kerze anzündeten, bevor sie in die Konstituante eilten, um revolutionäre Beschlüsse zu fassen, all das zeigt, dass es mit dem Vertrauen auf die Vernunft auch bei ihnen so weit nicht her war.
Im Gegensatz zu dem, was eine heute verbreitete, meist postmodern inspirierte Geschichtsdeutung dem Zeitalter der Aufklärung nachsagt, war das Fortschrittsverständnis im 18. Jahrhundert keineswegs so naiv und ungebrochen, wie es
oft dargestellt wird. Dieselben Menschen, die die Heißluftballons der Gebrüder Montgolfier als Zeichen einer neuen wissenschaftlich-technischen Moderne bejubelten, schwärmten für den »guten Wilden« und für die einfache Sittlichkeit des Landlebens. Dieselben Menschen, die die Vernunft zur Göttin erhoben, waren anfällig für Scharlatane und Wunderheiler wie Cagliostro und Mesmer. Die tatsächlich ziemlich ungebrochene Wissenschaftsgläubigkeit, die der Marquis de Condorcet in seiner berühmten Esquisse d’un Tableau historique des progrès de l’esprit humain von 1795 an den Tag legt, wurde von Aufklärern wie D’Alembert, Diderot oder Kant keineswegs geteilt. Und der angeblich naiv-vernunftgläubige Aufklärer Lessing hat uns den schönen Satz hinterlassen: Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren.
Die Geschichte der Moderne ist einerseits ein imposanter Prozess der Befreiung und der Rationalisierung der Lebensverhältnisse, andererseits ist sie aber auch geprägt von periodisch auftretenden Angstepidemien. Der Historiker Lucian Hölscher hat dies in seinem Buch Weltgericht oder Revolution für das ausgehende 19. Jahrhundert und besonders für die Wilhelminische Epoche dargestellt. Er sieht, was die Befindlichkeit der Menschen angeht, eine deutliche Parallele zwischen den siebziger Jahren des 19. und des 20. Jahrhunderts: »Ebenso wie im Kaiserreich macht sich Ende der siebziger Jahre eine kollektive Angst vor einer globalen, selbstverschuldeten Katastrophe breit: damals der drohenden sozialen Revolution, jetzt der atomaren und ökologischen Selbstvernichtung der Menschheit. Ebenso wie damals reagiert ein substanzieller Teil der Bevölkerung auf die Bedrohung mit einer Annäherung an die Kirchen und die Wiederentdeckung religiöser Bedürfnisse und Traditionen.« 57
Es war der Psychologe und Soziologe Erich Fromm, der in seinem 1941 erschienenen Buch Die Furcht vor der Freiheit vielleicht am gründlichsten analysiert hat, worin die merkwürdige Ambivalenz der neuzeitlichen Freiheitsgeschichte besteht. Das hypertrophe Sicherheitsstreben und die Lust an der Beherrschung anderer mit ihrer Kehrseite der Lust an der Unterwerfung haben den Prozess menschlicher Emanzipation von Anfang an begleitet und ihn zuweilen, wie im stalinistischen Russland und in Nazideutschland, auf brutalste Weise in sein Gegenteil verkehrt. Alain Ehrenberg hat eine ähnlich ambivalente Haltung des modernen Menschen zur Freiheit als eine Quelle der Depression ausgemacht. Ihm zufolge liegt der Depression ein Gefühl der Selbstüberforderung zugrunde, das er wiederum auf die radikale Freisetzung des Individuums in der avancierten kapitalistischen Gesellschaft zurückführt: »Wenn die Neurose das Drama der Schuld ist, so ist die Depression die Tragödie der Unzulänglichkeit. (...) Die Depression ist nicht die Krankheit des Unglücks, sondern die Krankheit (...) einer Persönlichkeit, die versucht, nur sie selbst zu sein: die innere Unsicherheit ist der Preis für diese ›Befreiung‹.« 58 Er geht sogar noch weiter, indem er die Geisteskrankheit schlechthin als »Krankheit der Freiheit« bezeichnet. 59
Auch die unruhigen Studenten der 68er-Zeit, die sich gegen das Establishment auflehnten, auf die Straße gingen und die allzu braven Bürger herausforderten, waren keineswegs so frei von Angst, wie sie vielleicht selbst glaubten. Und nicht wenige wiederholten im Kleinen, was die erste Hälfte des schrecklichen 20. Jahrhunderts im Großen vorexerziert hatte: die Flucht vor den Zumutungen der Freiheit und der Individualisierung in die vermeintliche Geborgenheit dogmatischer Weltanschauungssysteme. Wer sich unter roten Fahnen versammelte, sich
in Sprechchören der Geborgenheit in der Gruppe versicherte, wer in so großer Zahl alsbald Zuflucht in dogmatischen Lehrgebäuden und Kaderorganisationen suchte, war ganz offensichtlich von derselben Angst
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