Gestohlene Wahrheit
Tag war voller Überraschungen, so viel stand fest. Andererseits war ihr Magen aber auch schon längst völlig leer.
Nachdem sie seinen Rücken gereinigt hatte, warf sie die blutigen Waschlappen in den Müll. Keine Wäscherei hätte sie wieder sauber bekommen können, und sie vertraute nicht darauf, dass die im Happy Acres besser war als anderswo.
Dann riss sie zwei Packungen mit selbstklebenden Gazestreifen auf und klebte sie vorn und hinten auf die Wunde.
»So«, sagte sie und rieb sich die Hände. »Geschafft.«
»Das hast du gut gemacht.«
Sie verdrehte die Augen und ging zum Waschbecken, wo sie etwas Zahnpasta auf die Reisezahnbürste gab, die sie aus dem Verbandszeug genommen hatte. »Ja, das habe ich ganz toll gemacht. Ich habe mich auch nur ein Mal … äh, zwei Mal übergeben müssen.«
Er zwinkerte ihr zu, und sie starrte ihn mit offenem Mund, in dem bereits die Zahnbürste steckte, an. »Wer sind Sie, und was haben Sie mit dem grüblerischen, mürrischen Nathan Weller gemacht?«
Daraufhin seufzte er, sah auf seine mit Schwielen bedeckten Hände hinab und schüttelte den Kopf.
Es war wirklich traurig, dass der Mann erst angeschossen werden musste, bevor er ihr ansatzweise zeigte, wer er wirklich war.
»Ich, äh, habe die Knights angerufen, als du uns diese … charmante Unterkunft besorgt hast.«
Sie verdrehte die Augen und begann, den bitteren Geschmack der Magensäure aus ihrem Mund zu verbannen.
»General Fuller konnte endlich mit dem Direktor des FBI sprechen. Offenbar hat er keine Ahnung, was Agent Delaney bearbeitet hat. Er sagte, der Mann hätte sich die letzten Monate vor seinem Tod seltsam benommen.
Geheimnistuerisch
war das Wort, das der Direktor benutzt hat.«
Sie spuckte aus. »Na, das ist ja großartig.«
Er schnitt eine Grimasse und nickte. »Ja. Aber es gibt auch gute Nachrichten.«
»Wirklich?« Sie wischte sich den Mund mit einem Handtuch ab, rümpfte die Nase und warf es ins Waschbecken. Es roch nach Achselhöhle. »Worauf wartest du noch? Ich könnte ein paar gute Neuigkeiten gebrauchen. Erzähl sie mir.«
»Ich bin Griggs Mails durchgegangen. Offenbar war das eine einmalige Sache. Ich habe keine anderen Auftragsanfragen gefunden, daher bezweifle ich, dass er schon häufiger Nebenjobs angenommen hatte.«
»Tja.« Sie seufzte. »Dann wäre das ja geklärt. Er hat zwar auch auf eigene Faust gearbeitet, war dabei aber wenigstens anspruchsvoll.«
»Das glaubst du doch selber nicht.«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und sah ihren liebenswerten, aber vor allem äußerst loyalen Bruder vor ihrem inneren Auge. »Ich denke, dass es eine gute Erklärung für sein Verhalten gibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er etwas getan hätte, das mich, dich oder einen von euch einem unnötigen Risiko ausgesetzt hätte. Du etwa?«
»Nein.«
Gut. Wenigstens darin waren sie sich einig. Grigg mochte vieles gewesen sein, aber er war kein Verräter, er hätte weder sein Land noch die Männer, mit denen er zusammengearbeitet hatte, verraten. Das sollte sie doch zumindest ein wenig trösten.
Nate nahm die Schmerzmittelpackung in die Hand, holte vier Tabletten heraus, warf sie sich in den Mund, legte den Kopf in den Nacken und schluckte sie herunter.
»Hast du starke Schmerzen?«, fragte sie und überprüfte, ob die Bandagen sich bereits vom Blut verfärbten. Zum Glück taten sie das nicht.
»Es geht.« Er zuckte mit der unverletzten Schulter. »Aber es ist wirklich nur ein Kratzer.«
»›Ein Kratzer? Dein Arm ist ab!‹« Okay, ihr englischer Akzent musste wirklich mal wieder aufpoliert werden.
Er zog eine Augenbraue hoch.
»Ach, komm schon.« Sie hob eine Hand. »Kennst du
Die Ritter der Kokosnuss
von Monty Python nicht?«
Er sah sie an, als ob sie den Verstand verloren hätte.
»Mann, immer wenn ich gerade glaube, du könntest normal sein …« Sie schüttelte den Kopf und begann, im Badezimmer aufzuräumen.
»›Wir sind die Ritter, die immer sagen
Nie
‹«, verkündete er mit ziemlich überzeugendem Akzent, und sie wirbelte herum und starrte ihn mit offenem Mund an. Er grinste. »Du kennst mich wohl gar nicht, was?«
»Und wessen Schuld ist das?«
»Meine, schätze ich.«
»Ja, gut geraten.«
»Ich kann’s nicht ändern«, gestand er. »Wenn du in meiner Nähe bist, habe ich immer Schwierigkeiten, das hier zu verbergen«, er deutete auf die Beule in seinem Schritt, »daher gehe ich dir meist aus dem Weg.«
Jetzt stand ihr Mund aus einem völlig anderen Grund offen.
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