Gewitter der Liebe
Erkenntnis schleuderte Nathan die Decke von seinem Körper, sah den verbundenen Stumpf und sank schluchzend zurück. Vorbei war der Traum von einem erfolgreichen Leben als Geschäftsmann an der Westküste, verloschen die vage Hoffnung, dass sich Julia eines Tages von Ross abwenden und erkennen würde, dass er, Nathan, derjenige war, der sie aufrichtig liebte. Einen Krüppel würde auch eine Frau wie Julia niemals als Partner akzeptieren!
»Beruhige dich«, versuchte sie ihn zu trösten. »Wir alle werden dir über die schwerste Zeit helfen. Ich will dir beim Einrichten deines Ladens behilflich sein, und ich bin davon überzeugt, dass ich nicht die Einzige dabei sein werde.«
Er nickte lahm, erst dann schien er zu merken, dass sein Kopf auf Julias Beinen ruhte. »Du warst die ganze Zeit bei mir?«
»Das war ich, und ich werde bei dir bleiben, solange du mich brauchst.«
Eine neuerliche Schmerzwelle ließ Nathan laut aufstöhnen, und so bat er um die Feldflasche, um einen gehörigen Schluck daraus zu nehmen. Dann fiel er zu Julias Erleichterung in einen erneuten Schlaf, und auch sie schloss die vor Müdigkeit brennenden Augen. Gott sei Dank war das Schlimmste überstanden; Nathan wusste nun um sein Schicksal – und er würde es meistern.
Am Abend des darauffolgenden Tages stand der letzte Planwagen auf dem Kamm; weitere Unfälle hatte es nicht gegeben. Behutsam hatte man Nathan den Hang hinaufgetragen und in seinen eigenen Wagen gelegt. Trotz großer Schmerzen hatte er die Zähne zusammengebissen; er hatte sein Schicksal akzeptiert, weil ihm keine andere Wahl blieb.
Zweiundfünfzig Wagen waren übrig geblieben. Acht Wagen waren dem ursprünglichen Oregon Trail gefolgt, die anderen waren auf der langen beschwerlichen Reise mit einem Achsbruch liegen geblieben.
»Verwunderlich, dass wir es trotzdem geschafft haben«, staunte Julia, als sie sich kurz vorm Schlafengehen noch einmal mit Ross traf. »Sogar Nathans Pferd ist noch am Leben.«
Er schob sich seinen inzwischen speckigen Hut in den Nacken und starrte hinüber ins Tal, an dessen Ende irgendwo San Francisco lag.
»Wir Überlebenden können uns glücklich schätzen, nicht wahr? Nur Nathans Unfall war ein Wermutstropfen. Wie geht es ihm nach dem Transport?«
Ihre Augen verdunkelten sich. »Er hat noch große Schmerzen und muss unbedingt zu einem Arzt. Viel reden tut er nicht, aber ich glaube, dass er sich kaum vorstellen kann, wieder ein halbwegs normales Leben zu führen. Anfangs befürchtete ich, er könnte wütend auf uns sein, weil wir ihn zum Krüppel gemacht haben – aber er ist klug genug zu verstehen, dass er sonst womöglich nicht mehr am Leben wäre.«
»Josh hat unten am Hang zwei stabile Eichenstämme gefunden; er ist in jeder freien Minute dabei, Krücken daraus zu arbeiten.«
Sie lehnte sich an ihn – teils aus Sehnsucht nach Geborgenheit, teils wegen der feuchten kühlen Nachtluft. »Wir wird er sich in einem die Leben mit nur einem Bein zurechtfinden? Er hatte so große Pläne, und er glaubt nicht daran, sie verwirklichen zu können, obwohl ich ihn immer wieder schwöre, dass wir ihm helfen werden.«
Langsam glitt Ross’ Hand unter ihr Schultertuch und begann, ihren Rücken zu streicheln. Er hätte sich jetzt gern mit ihr in einen warmen Wagen verkrochen, aber die Brüder Hofman schliefen bereits.
»Er wird bald feststellen, dass ein Mann auch mit einem Bein ein vollwertiger Mensch ist«, sagte Ross, der es rührend fand, dass Julia so besorgt um Nathan war. »Und vielleicht findet er sogar irgendwann eine Frau, der es nichts ausmacht, dass er ein Holzbein hat und etwas hinkt. Wenn er tatsächlich der erfolgreiche Geschäftsmann wird, der er vorhat zu werden, werden die jungen Damen im heiratsfähigen Alter ein Auge zudrücken wegen seiner Behinderung.«
Leise seufzte Julia auf. »Das wünsche ich ihm so sehr, aber bei dem Frauenmangel in San Francisco muss er wahrscheinlich lange auf eine passende Kandidatin warten.«
»Ach was.« Ross umfasste ihre Taille. »Täglich kommen Schiffe aus aller Welt im Hafen an, und nicht nur Handelsschiffe. Einige Passagierschiffe sind auch dabei, und unter den Goldsuchern befinden sich sicherlich auch junge alleinstehende Frauen, die zu besseren Bedingungen Arbeit suchen. Da unten«, er wies mit dem Kinn zum Tal, »liegt unserer aller Hoffnung. James sagt, wir werden morgen erst am späten Nachmittag die Stadt erreichen. Und dann kann unser neues Leben beginnen. Freust du dich?«
Das tat Julia,
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