Gewitter der Liebe
Unterschied, dass ein Invalide dich kaum vor Einbrechern schützen könnte.«
»Auch ein Mann mit nur einem Bein kann eine Frau beschützen.« Wohlweislich überging sie seine ironische Bemerkung. »Stell bitte dein Licht nicht unter den Scheffel.«
»Zumindest könnte ich dich mit meinen Krücken verteidigen.«
Er zwinkerte ihr zu, sodass sie lachen musste. »Keine Bange, ich habe mich an die Dinger gewöhnt – und wenn es mir erst besser geht, kümmere ich mich um mein Geschäft.« Dabei dachte er voller Wehmut, dass er sogar sein zweites Bein opfern würde, wenn er dafür Julias Herz erobern könnte.
Die neue Arbeit machte ihr große Freude. Eifrig erledigte sie die ihr aufgetragenen Näharbeiten, und mehr als einmal staunte Mrs Garland über die feinen Stiche, die man auf dem Stoff kaum sehen konnte.
»Wenn ich Platz genug hätte, könnte ich anbauen«, sagte die Wirtin an diesem Tag. »Vorhin musste ich schon wieder drei Gäste abweisen, weil ich kein Bett mehr frei habe.«
»Ross meint, es werden noch viel mehr Männer kommen«, gab Julia zurück und reichte Mrs Garland die Servierschürze, deren Spitze sie wieder angenäht hatte.
»Ja, aber die meisten werden wieder gehen, wenn sie nicht genug Gold finden. Schon jetzt höre ich mir täglich an, dass sich die Leute an den Flussufern drängeln.«
»Dr. Stevens sagte, reich geworden wäre bisher kaum jemand.«
Die stämmige Wirtin übergab Julia einen Stapel Bettlaken, die löchrig waren und unbedingt geflickt werden mussten. »Da irrt sich der gute Doktor aber gewaltig. Haben Sie nicht die Prachtbauen in östlicher Richtung gesehen?«
Julia erinnerte sich an die Residenzen mit Säulen aus weißem Marmor und nickte.
»Einige von ihnen wurden von Männern erbaut, die im letzten Jahr eine Menge Gold gefunden haben … einer von ihnen schürfte in nur zehn Tagen Gold im Wert von sechzigtausend Dollar!«
»Sechzigtausend Dollar«, wiederholte Julia voller Ehrfurcht und versuchte sich auszumalen, was geschähe, wenn auch Ross so viel Gold finden würde.
»Ja, aber diese Zeiten sind vorbei, mein liebes Kind. Allenfalls ein paar hundert Dollar ist nunmehr die Ausbeute der Schürfer – doch alle glauben, dass sie eines Tages ein riesiges Nugget finden werden.«
Julia nahm die Nähnadel auf. »Auch Ross hofft darauf.«
»Sie haben ihn sehr lieb, nicht wahr?«
»Ich liebe ihn, und wenn er genug Gold gefunden hat, wird er uns ein schönes großes Haus bauen und mich heiraten.«
»Das ist sehr ehrenvoll. Die meisten, die mit Mr Cramers Treck gekommen sind, wollen in San Francisco sesshaft werden, habe ich gehört. Das ist gut für die Stadt, aber ich fürchte, sie werden wieder in ihre Heimat zu ihren Familien zurückkehren, wenn sie nicht reich werden.«
Julia gestand, dass sie anfangs entsetzt von der Stadt gewesen sei und am liebsten sofort wieder umgekehrt wäre. »Aber der Gedanke, noch einmal die Sierra Nevada durchqueren zu müssen, hielt mich davon ab. Zudem haben wir alle Opfer gebracht … am meisten Nathan. Nein, wir werden bleiben. San Francisco ist unser neue Heimat.« Sie beugte sich über ihre Arbeit und ließ die Nadel flink durch den weißen Leinenstoff gleiten.
Sie fühlte sich wohl in dem kleinen, der Küche angrenzenden Zimmerchen, das ihr als Nähstube diente, weil es warm und hell war. Die Pension von Mrs Judith Garland umfasste zwölf kleine, aber saubere Gästeräume im Obergeschoss; im Parterre gab es zudem ein Speisezimmer, in dem die Gäste für kleines Geld täglich eine warme Mahlzeit bekamen.
Außer Julia beschäftigte Mrs Garland nur noch ein Küchenmädchen; alle anderen anfallenden Arbeiten erledigte sie selbst.
»Dieser Nathan …« Sie ließ sich auf den zweiten Stuhl im Raum nieder, »… er scheint Ihnen aber auch viel zu bedeuten.«
»Das stimmt, er ist mir ein lieber Freund geworden, hat Lilly und mich während der ganzen Überfahrt immer anständig behandelt. Ross liebe ich, und Nathan habe ich lieb wie einen Bruder.« Julia blickte von ihrer Arbeit auf. »Es zerreißt mir das Herz, wie sehr er unter seiner Behinderung leidet. Dr. Stevens meint übrigens, dass auch er Nathans Bein nicht hätte retten können, es war zu schwer verletzt.«
Mrs Garland nickte verständnisvoll und erhob sich. »Wenn Sie nachher gehen, nehmen Sie doch etwas Eintopf mit, damit Nathan bald wieder zu Kräften kommt.«
»Vielen Dank. Er sagt, dass sie eine besonders gute Köchin sind.« Fast täglich überredete die Wirtin sie, von den
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