Gewitter der Liebe
bevor Julia protestieren konnte, war Nathan in seinen Gehrock geschlüpft und hatte nach seinem Spazierstock gegriffen. Den benutzte er stets, wenn er zu Fuß unterwegs war, um seinen Beinstumpf nicht zu sehr zu belasten. Eine leichte Kutsche hatte er sich in der Zwischenzeit ebenfalls angeschafft, weil sich das für einen Geschäftsmann einfach gehörte. Er bot Julia den Wagen an, doch sie lehnte ab, weil für diese kurze Entfernung das arme Pferd nicht angespannt werden sollte.
Nathan bot ihr seinen Arm an, und ohne Scheu legte sie ihre kleine Hand in seine Armbeuge. Die Geschäfte zu beiden Straßenseiten lagen im Dunkeln, aber Fenster und Türen der Saloons waren hell erleuchtet; aus dem Inneren drangen Männerlachen und muntere Klaviermusik, vermischt mit den schrillen Stimmen der Barmädchen und Zurufen an den Wirt.
Als sie das schräg gegenüberliegende Red Carpet erreichten, murmelte Julia erschauernd: »Ich mag mich noch immer nicht daran gewöhnen, dass Lilly dort arbeitet.«
»Es scheint ihr aber Freude zu machen. Als sie mich vor einigen Tagen kurz im Geschäft besuchte, machte sie einen sehr zufriedenen Eindruck.« Er tätschelte ihre Hand. »Lass sie nur machen, sie will etwas erreichen und wird es zweifellos schaffen. Aber für sie ist es natürlich ganz wichtig, dass wir zu ihr stehen. Für mich ist sie weiterhin eine gute Freundin, die mich auf dem Weg zur Westküste begleitet hat.«
Sie schlugen den Weg zum Hafen ein. Auf den vor Anker liegenden Schiffen war es ruhig und dunkel; vermutlich amüsierte sich die Besatzung in einem der zahlreichen Saloons – oder war desertiert, um nach Gold zu schürfen.
»Lilly wird immer meine Freundin bleiben«, sagte Julia nachdenklich, während sie mit angewidertem Blick einen Mann betrachtete, der sich torkelnd am Straßenrand übergab. »Aber die Vorstellung, dass sie sich mit Kerlen wie diesem da drüben abgibt, lässt Übelkeit in mir aufsteigen.«
»Das Red Carpet gehört zu den besseren Etablissements«, wurde sie von Nathan beschwichtigt. »Dort haben Männer wie der da nichts verloren.«
Verblüfft blieb sie stehen. »Woher weißt du das so genau? Warst du schon mal dort?«
Amüsiert erklärte er, dass ihn nichts dorthin ziehen würde, aber Virgil trank einen um den anderen Abend ein Bier dort. Mittlerweile hatten sie Julias Haus erreicht, und er begleitete sie bis zur Veranda.
»Ich freue mich auf morgen«, sagte Nathan noch einmal. »Und sei nicht mehr traurig wegen Ross; ich bin davon überzeugt, dass seine Gedanken ständig bei dir sind.« In Wahrheit war er keineswegs davon überzeugt, aber Julia so niedergeschlagen zu sehen, zerriss ihm fast das Herz.
Obwohl sie wusste, dass Ross nicht kommen würde, hoffte Julia den ganzen Weihnachtstag über, dass er doch noch erscheinen würde, weil er sich nach ihr sehnte und sie überraschen wollte.
In der Pension war sie nur vormittags, um Mrs Garland ein kleines Geschenk zu überreichen. Die rüstige Pensionswirtin war hoch erfreut, hatte jedoch kaum Zeit, sich mit Julia zu beschäftigen.
»Heute ist der Teufel los«, sagte sie. »Fast alle Gäste sind von den Goldfeldern zurück, um in der Stadt Weihnachten zu feiern. Bevor sie in die Saloons strömen, wollen sie natürlich etwas Anständiges essen. Seit dem Morgengrauen stehe ich in der Küche, damit ich alle Mäuler satt kriege.«
Julia war ihr in die Küche gefolgt, in der es nach Weihnachtsgebäck und Gänsebraten roch. Erst jetzt merkte Mrs Garland, wie still Julia war, und Julia fiel ein zu erzählen, dass Ross nicht heimgekommen war.
Mrs Garland umarmte Julia liebevoll und bot ihr an, den Weihnachtsabend in der Pension zu verbringen, um nicht alleine zu sein, erfuhr jedoch, dass der nette Mr Banks und sein Gehilfe sie besuchen würden.
Auf den Straßen herrschte Hektik, alle Geschäfte hatten bis mittags geöffnet und konnten sich vor Kunden kaum retten. Julia huschte nach Hause, in der Hoffnung, Ross’ Pferd vor der Veranda vorzufinden, doch natürlich stand es nicht da.
Während Julia in der kleinen Küche das Herdfeuer entzündete, dachte sie an die Weihnachtsfeste mit ihren Eltern. Geschenke hatte es nie gegeben, aber ein gutes Essen, auf das die O’Donovans lange hatten sparen müssen. Später hatten Julia und Lilly zu Weihnachten in ihrer kalten Mansarde gesessen und sich vorgestellt, in einem noblen Restaurant zu speisen, während sie ihre dünne Kohlsuppe löffelten.
Hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Ross und
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