Gilde der Jäger: Engelsdunkel (German Edition)
etwas über die Prinzessin: Sie war es nicht gewöhnt, dass man sie nach ihrer Meinung fragte, geschweige denn ihr mit dem Respekt zuhörte, den sie ganz sicher verdiente. Keiner sah so viel wie jemand, dem andere keine Beachtung schenkten. Deshalb schleuste Jason so viele seiner Spione unter Dienstpersonal.
Mahiya jedoch war keine Dienerin, und er kannte sie nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob sie ihm nur sehr geschickt etwas vorspielte, ob ihr »wahres« Gesicht nicht vielleicht ebenso falsch war wie die augenfällige Fassade. Nur eines war sicher: Prinzessin Mahiya mit ihren messerscharfen Haarnadeln, die sich auch jetzt in ihrer Frisur verbargen, war in den Augen des Meisterspions soeben noch faszinierender geworden.
»Das zu sagen steht mir nicht zu«, war ihre lächelnde Antwort auf seine Frage. Die Bescheidenheit in ihren Worten wirkte so natürlich, dass die meisten sie für bare Münze genommen hätten. »Ich habe nicht annähernd so viel Erfahrung wie du.«
Jason war es gewöhnt, wenn es sein musste, Stunden, Tage oder Wochen zu warten, um eine einzige Wahrheit ans Tageslicht zu bringen. »Ich möchte den Rest der Festung sehen«, sagte er, um sie in dem Glauben zu lassen, er hätte ihre sorgsam kalkulierte Nicht-Antwort akzeptiert.
»Natürlich.« Als das Frühstück beendet war, räumte sie flink den Tisch ab und begleitete Jason nach draußen. »Die Anlage ist zu groß, um alles zu Fuß besichtigen zu können. Wenn wir fliegen, kann ich dir einen Überblick geben, und dann …«
»Nein, zeige mir direkt den Bereich, der für den offiziellen Hof genutzt wird.« Er würde sich nicht am unangenehm blauen Himmel zur Zielscheibe machen lassen. Auch wenn Neha keinen Grund hatte, ihn aus der Luft zu erschießen, war sie doch ein Erzengel. Und der Einzige im Kader, dem Jason vertraute, war Raphael.
Mahiya zögerte. »Würdest du mir etwas Zeit geben? Ich muss erst in meine Gemächer. Die Lady wird ungehalten sein, wenn sie mich in diesem Aufzug im Hauptbereich des Hofs sieht.«
Als Jason nickte, wusste Mahiya, dass sie in der Falle saß. Sie würde den Meisterspion sich selbst überlassen müssen, während sie sich umzog, und damit bot sie ihm damit erneut die Gelegenheit, sie abzuschütteln. Aber in ihrem jetzigen Aufzug konnte sie nicht gehen. Neha würde es als Beleidigung auffassen, und an diesem Punkt ihres Plans wäre es sehr dumm, die Aufmerksamkeit des Erzengels auf sich zu lenken. Was es sie auch kosten mochte, sie musste ihren Stolz hinunterschlucken, sich beherrschen und den Kopf stets senken. Musste alles tun, was nötig war, um noch eine kleine Weile länger zu überleben.
Sie dankte Jason für seine Geduld und ging nach oben, wo sie schnell eine kleine Reihe von Haken an ihren Knöcheln löste, mit denen ihre keilförmige Baumwollhose befestigt war. In der Stadt trugen viele aus der jüngeren Generation lieber enge Jeans unter den Tuniken, aber Neha war ein altmodischer Engel, der innerhalb der Festung auf die Einhaltung von Traditionen achtete.
Die Knöpfe an den Flügelschlitzen machten ihr zunächst zu schaffen, weil sie sich nicht öffnen lassen wollten, doch schließlich konnte Mahiya sie lösen und ließ die Tunika zu Boden gleiten. Danach griff sie statt zu einem Sari zu einer anderen Tunikakombination. Es war Jason zuzutrauen, dass er sich irgendwann in die Luft schwingen würde, und sosehr Mahiya auch die Anmut schätzte, die der Sari einer Frau verlieh, war er doch keine angemessene Flugbekleidung.
Die Tunika aus weichem, gelbem Stoff war mit einer Überfülle an weißen Blüten bestickt, in deren Mittelpunkt jeweils ein winziger Spiegel saß. Damit war sie feierlich gekleidet, ohne gegen die Traueretikette zu verstoßen, die seit Anoushkas Tod galt. Die feine, weiße Baumwollhose, die sich an ihre Beine schmiegte, bildete einen farblichen Kontrast dazu, ebenso das lange, weiße Tuch, das sie der Länge nach gefaltet und über ihre linke Schulter gelegt hatte. Die Brosche, mit der sie es an der Tunika befestigte, war eines jener Schmuckstücke, die sie zwar tragen durfte, die aber nicht ihr, sondern der Schatzkammer des Palastes gehörten.
Die Frisur war einfach – sie fasste die Haare im Nacken zu einem ordentlichen Knoten zusammen und steckte sie mit den edlen Nadelklingen fest, die sie unbemerkt von einem durchreisenden Kesselflicker hatte erwerben können. Sie hatte sie gegen einen reich verzierten Sari eingetauscht, und der Mann hatte geglaubt, das bessere
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