Glanz und Elend der Kurtisanen (German Edition)
innerhalb einer gegebenen Zeit mit jener unter der Restauration sehr wichtigen Persönlichkeit zu sprechen, die man heute den Justizminister nennt. Man nehme einen Mann in der günstigsten Stellung, einen Richter, also eine Art Hausfreund. Der Richter sieht sich genötigt, entweder den Abteilungschef, den Privatsekretär oder den Staatssekretär aufzusuchen und ihnen zu beweisen, wie nötig es ist, sofort eine Audienz zu erhalten. Ist ein Justizminister jemals auf der Stelle sichtbar? Wenn er mitten am Tage nicht in der Kammer ist, so sitzt er im Ministerrat, oder er gibt seine Unterschriften oder auch Audienzen. Morgens schläft er, und man weiß nicht wo. Abends hat er seine amtlichen und persönlichen Verpflichtungen. Wenn alle Richter unter irgendeinem Vorwand eine Audienz erlangen könnten, so würde auf den Justizminister Sturm gelaufen werden. Der besondere unmittelbare Gegenstand der Audienz muß also erst der Würdigung einer jener Mittelsmächte unterbreitet werden, die im allgemeinen den Zugang versperren; sie sind eine Tür, die erst geöffnet werden muß, wenn sie nicht schon von einem Konkurrenten in Anspruch genommen ist. Eine Frau aber sucht eine andere Frau auf, sie kann unmittelbar in deren Schlafzimmer eindringen, wenn sie die Neugier der Herrin oder der Kammerfrau zu wecken versteht, vor allem dann, wenn für die Herrin ein großes Interesse oder eine packende Notwendigkeit auf dem Spiele steht. Man nenne die weibliche Macht zum Betspiel Frau Marquise d' Espard, mit der ein Minister rechnen muß; diese Frau schreibt ein kleines parfümiertes Billett, das ihr Kammerdiener dem Kammerdiener des Ministers überbringt. Den Minister trifft das Briefchen in dem Augenblick, in dem er erwacht, und er liest es sofort. Wenn der Minister auch zutun hat, so ist doch der Mann entzückt, daß er einer der Königinnen von Paris, einer der Großmächte des Faubourg Saint-Germain, einer der Lieblinge der Königin, der Gemahlin des Dauphins oder des Königs einen Besuch machen muß. Casimir Périer, der einzige wirkliche Premierminister, den die Julirevolution gehabt hat, ließ alles im Stich, um einen ehemaligen ersten Kammerherrn König Karls X. aufzusuchen.
Diese Theorie erklärt die Macht der Worte: »Gnädige Frau, Frau Camusot in einer sehr eiligen Sache, von der die gnädige Frau wüßte!« die die Zofe zu der Marquise d'Espard sagte, indem sie tat, als wäre sie schon erwacht. Und die Marquise rief auf der Stelle, sie solle Amelie hereinführen. Die Frau des Richters fand williges Gehör, als sie mit den Worten begann: »Frau Marquise, wir sind verloren, weil wir Sie gerächt haben ...« »Wieso, meine schöne Kleine? ...« fragte die Marquise, indem sie Frau Camusot in dem Halbschatten der angelehnten Tür ansah. »Sie sind heute morgen göttlich mit Ihrem kleinen Hut. Wo finden Sie solche Formen? ...« »Gnädige Frau, Sie sind sehr gütig ... Aber Sie wissen, die Art, wie Camusot Lucien von Rubempré verhörte, hat diesen jungen Mann zur Verzweiflung getrieben, und er hat sich im Gefängnis erhängt ...« »Was wird aus Frau von Sérizy werden?« rief die Marquise, die Unwissenheit vortäuschte, um sich alles noch einmal erzählen zu lassen. »Ach, man glaubt, sie ist wahnsinnig geworden ...« erwiderte Amelie. »Ach, wenn Sie von Seiner Gnaden die Gunst erwirken könnten, daß er meinen Mann sofort durch eine Ordonnanz aus dem Palast berufen läßt, so wird der Minister merkwürdige Geheimnisse erfahren; er wird sie sicherlich dem König erzählen ... Dann müssen Camusots Feinde schweigen.« »Wer sind die Feinde Camusots?« entgegnete die Marquise. »Nun, der Oberstaatsanwalt, und jetzt auch Herr von Sérizy ...« »Gut, meine Kleine,« versetzte Frau d'Espard, die den Herren von Granville und von Sérizy die Niederlage in ihrem schmählichen Entmündigungsprozeß gegen ihren Gatten verdankte, »ich werde Sie verteidigen. Ich vergesse weder meine Freunde, noch meine Feinde.«
Sie schellte, ließ die Vorhänge aufziehen, so daß das Licht in Strömen hereinbrach, und verlangte ihr Schreibpult, das die Zofe brachte. Schnell kritzelte die Marquise ein kurzes Billett.
»Godard soll aufsitzen und diesen Brief ms Ministerium bringen; eine Antwort ist nicht nötig,« sagte sie zu ihrer Kammerfrau. Die Kammerfrau lief schnell weg, machte aber trotz des Befehls an der Tür ein paar Minuten halt.
»Es gibt also große Geheimnisse?« fragte Frau d'Espard. »Erzählen Sie mir das, liebe Kleine. Klotilde von
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