Glencoe - Historischer Roman
nie vergessen, wie sie in jener Nacht fror. Sandy Og hatte ihr ständig Decken geschenkt, weil sie ein so verfrorenes Geschöpf war, doch in jener Nacht am Berg kam es ihr vor, als sei ihr in all den Jahren warm gewesen, als habe sie zuvor nicht gewusst, wie sich Kälte anfühlte.
Jean war kein Kind, das sich fügte. Sie brüllte, bis Sarah begann, von dem Brot in ihrem Bündel kleine Brocken abzubrechen, sie zu Kugeln zu rollen und der Tochter in den Mund zu stopfen. Als sie im Morgengrauen das Tal erreichte, war von dem Brot nichts mehr übrig, und auch Sarahs Kraft war aufgebraucht; sie war so erschöpft, dass sie nicht einmal mehr traurig war. Sie schleppte sich und das Kind, das aus der Schlinge herauswollte, bis zur nächsten verlassenen Pachthütte. Die Tür war, wie im Sommer üblich, verrammelt. Als Sarah an den Balken rüttelte, entdeckte sie einer der Männer, die den Fluss entlang Wache standen. Mit blankgezogener Waffe eilte er heran. Er war noch jung, wollte gewiss seine Sache tadellos machen. Nach wenigen Schritten erkannte er in ihr die Schwiegertochter des MacIain. Was sie hier tue, verlangte er zu wissen.
»Ich geh auf Besuch zu meinen Leuten nach Glenlyon«, antwortete Sarah nahezu wahrheitsgemäß.
»Das ist kein guter Plan, Lady. Ihr wisst doch, dass die aus Glenlyon es mit dem Willie halten, und dass Euer Mann im Feld steht, schmeckt denen nicht.«
»Rede nicht so dumm! Es sind meine Verwandten.« Sie wünschte sich, ein einziges Mal wie Gormal oder Lady Morag zu klingen – würdig und keinen Widerspruch duldend. »Kein Mann von Ehre tut einer Frau von seinem Blut etwas an. Ich habe nichts zu befürchten, und jetzt bin ich müde und will mein Kind versorgen, also hilf mir, statt Maulaffen feilzuhalten.«
Allzu schlecht konnte sie sich nicht angestellt haben, denn der Junge steckte das Schwert weg, zog gleich die Axt und hackte die Bretter von der Tür. Was sie in der Hütte eines Pächters verloren habe, fragte er nicht, sondern wünschte ihr Glück, bevor er ging.
Sarah fragte sich auch nichts. Sie verriegelte die Tür von innen, gab Jean ihre Freiheit und warf sich auf das fremde, muffig riechende Lager. Sofort fiel sie in Schlaf. Stunden später erwachte sie mit schmerzenden Gliedern, weil Jean vor Hunger brüllte und ihr an den Haaren riss. Sarah gab ihr die Brust, auch wenn das die Tochter längst nicht mehr befriedigte, richtete auf, was wilde Kinderhände umgestoßen hatten, und machte sich bereit zum Aufbruch. Jetzt, wo sie nicht mehr müde war, fiel die Traurigkeit über sie her wie eine Böe.
Ceana würde den anderen sagen, dass niemand nach ihr zu suchen brauchte, dass ihr Platz schon eingenommen war. Der MacIain würde sich um Duncan kümmern, er war dazu gemacht, mit seinen Schaufelhänden aus dem Nest gefalleneVögel aufzulesen. Somit gab es niemanden in Glencoe, der versuchen würde, sie zurückzuholen.
Nur aus Vorsicht schlug sie sich in die Böschung am Flussufer. Sie watete durch den Teppich aus Nachtkerzen, jenen sonderlichen Gewächsen, die nur eine Nacht lang blühten und vor denen Sandy Og sich fürchtete. Er ging nie hierher. Sarah zog die Flasche aus dem Gurt und schüttete sich die letzten Tropfen Lebenswasser in den Hals. Auf ein langes Leben, liebster Sandy Og! Ich hätte dich gerne gefragt, warum dir Blumen solche Angst machen, aber ich hab’s nie gewagt, und Ceana wird nicht fragen müssen.
Es wurde wieder Nacht. Sie kam an die Stelle, wo der Fluss Etive und der Fluss Coe ineinanderströmten, ihr Kind hatte seit bald einem Tag nichts Rechtes gegessen und brüllte sich die Seele aus dem Leib. Sarah machte beim letzten ärmlichen Gehöft vor dem Moor halt, um von der Bäuerin Brot zu kaufen, aber als die es brachte, fiel ihr ein, dass sie kein Geld hatte. Die Frau, eine Witwe, der sie unbekannt war, gab es ihr umsonst und ließ sie auf dem Boden der Hütte schlafen. »Deine Verwandten hätten dich abholen sollen«, sagte sie. »Was sind das für Leute, die Frau und Kind allein übers Moor schicken?« Am Morgen gab sie Sarah Käse, den sie gewiss nicht entbehren konnte, und wies ihr den Weg zwischen den Felsen. »Der Mann, der dir das hübsche Balg gemacht hat, würde heulen wie Finn nach seiner Sabdh, wenn er wüsste, was du treibst.«
Würde er das?, fragte sich Sarah. Warum sollte er? Wenn seine weiße Hirschkuh verschwunden ist, liegt ihm endlich die schwarze in den Armen. Dann hielt sie inne. So von Sandy Og zu denken war nicht recht. Er hatte sie
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