Gloriana
doch des Menschen Lage! Ist er geboren nur, damit den Tod er trage?‹
›Es dreht der Kreis der Zeit sich ewig wie die Sphären‹, Der Riese sagte. ›Und jede Spanne eines Lebens Teilt sich in vier, genauso wie die Jahreszeiten wiederkehren. Daß lerne der Mensch die Vergeblichkeit seines Strebens, Ist ihm bestimmt, daß er in seiner Spanne letztem Teil welken muß. Doch schon im Untergang des Alten wird sich Neues regen, Und mag der Mensch zugrunde gehen nach der Götter Schluß, So sprießt aus seinen modernden Gebeinen zart das neue Leben, Und aus dem Menschheitswinter wird neuer Frühling einst sich heben.‹
›Gewiß‹, so sprach Félicites und lenkt nun höflich ein, ›Der Tod muß sein, so wieder Leben werden kann. Und wenn dein Tun, o Chronos, schafft uns Pein, So bringt es Freude auch für jedermann. Und reite diesen Waldweg einst ich wieder, Kann finden von Verwüstung keine Spur und sehn, Daß Bäum und Sträucher grünen auf und nieder, So will ich denn
zur Hoffnung mich verstehn, Daß Frühlings Herrlichkeit von neuem wird auf gehn.‹«
Trotz des Regens war es Wheldrakes Stunde. Nicht einer unter den Versammelten blieb unberührt von den Idealen und der Weisheit dieser epischen Strophen, ausgenommen vielleicht Una, Gräfin von Scaith, die, als sie in den allgemeinen Applaus einstimmte, es irgendwie fertigbrachte, ein wenig hinter den anderen nachzuhinken. Selbst Wheldrake nahm die Glückwünsche mit besserem Anstand als gewöhnlich entgegen, was Una zu der Annahme verleitete, daß er endlich die Anforderungen des Publikums akzeptiert und beschlossen habe, dessen Geschmack zu gefallen, statt dem eigenen.
Der Regen hatte aufgehört, die Wolken lockerten sich auf, und Sonnenstrahlen fielen da und dort in den von Nässe dampfenden Park und ließen das zarte Grün hell aufleuchten. Die Markisen wurden zurückgerollt und abgebaut. Neugierige Damhirsche hoben neugierig die Köpfe aus den von tausend Tropfen blitzenden Dickichten der süß duftenden Sträucher und Bäume und blickten wiederkäuend herüber.
»Seht nur, Meister Wheldrake, Eure Worte verscheuchen die grauen Wolken und locken die Sonne aus ihrem Versteck!« schmeichelte ihm die Maikönigin, als sie auf den lorbeerumwundenen Maibaum zuschritt, sich mit dem Rücken daranlehnte und lachend stand, während die Musiker mit Handtrommel, Horn und Flöte zurückkehrten, um sich unter die Höflinge zu mischen, von denen jeder ein buntes Band ergriff und zu tanzen begann, sich zur Musik hierhin und dorthin wendete, gemessenen Schrittes den Maibaum umkreiste und dabei eine mädchenhaft fröhliche Gloriana an den hohen Mast fesselte, nicht weniger fest, als Lord Montfallcon sie an ihre Pflicht gefesselt hatte.
Montfallcon war wieder auf den Balkon hinausgetreten. Er hatte es getan, um Ernest Wheldrakes Verse zu hören, doch nun verspürte er eine gewisse Besorgnis, als er die fröhliche Hofgesellschaft sah, wie sie seine Schutzbefohlene umringte und mit bunten Bändern aus Seide an den Maibaum fesselte, und ein Erschauern durchlief ihn, als er das Verlangen unterdrückte, in den Park hinunterzueilen und ihnen zuzurufen, daß sie sie freilassen sollten. Er beherrschte sich, holte tief Atem und lächelte über seine Einfalt. Jeden Augenblick mußte Sir Tancred aus dem Palast kommen und die Maikönigin befreien, nachdem sie ihren Vers gesprochen hätte. Dieser stammte von Meister Wallis, dem Sekretär für öffentliche Verlautbarungen. (Montfallcon fand seine Dichtkunst im Vergleich derjenigen des Meisters Wheldrake trocken und steril.)
»Ach gibt es keinen in der edlen Ritter Reihen, Der kommt, die Maikönigin zu befreien?«
rief Gloriana und blickte erwartungsvoll zum Portal auf der Parkseite des Schlosses, von wo ihr Held kommen mußte. Sir Tancred ließ auf sich warten.
Der Gräfin von Scaith wurde plötzlich bewußt, daß sie sich in einem Zustand gespannter Wachsamkeit befand, und sie wunderte sich darüber. Vielleicht lag es daran, daß Sir Tancred in diesen vertrauten Rollen immer geneigt war, zu früh statt zu spät die Szene zu betreten.
Gloriana schüttelte den Kopf und rief ihre Aufforderung ein zweitesmal.
Nun wurde es still. Man hörte das Wasser von den Bäumen um die Lichtung und den Planken des hohen Baumpfades tropfen. Die immer wieder unterbrochenen, raschelnden Bewegungen der Damhirsche im Unterholz betonten noch die allgemeine Stille. Die Sonne verschwand wieder hinter den ziehenden Wolken.
In diese beklommene Stille
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