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Gloriana

Gloriana

Titel: Gloriana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Moorcock
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Teufel oder Feen halten und Leckerbissen für uns auslegen. Aber sie schätzen unsere Größe falsch ein. Ein großer und kräftiger Mann wie Ihr, Sir, braucht jeden Tag Fleisch, um einen so großen Körper zu erhalten. Ihr habt eine ungewöhnliche Gestalt, werter Herr«, sagte Tallow, als er sie weiterführte. »Ich kenne nur einen Menschen, der so groß ist …«
    »Wir sollten umkehren«, sagte Una dringend und faßte Gloriana beim Arm. »Es ist keine Zeit mehr für weitere Erforschung.«
    Aber Gloriana schüttelte ihre Hand ab und ging weiter. Una war gezwungen, ihr zu folgen.
    Der Gang wurde breiter und mündete in eine ausgedehnte Säulenhalle, die einem gedeckten Markt ähnelte. Flackernde Fackeln erhellten den Raum, und in einem altertümlichen Kamin an einem Ende brannte ein großes Feuer. Ringsum an den Wänden, von den wechselnden Schatten der Flammen überspielt, waren kleine Zelte oder Gruppen von Zelten aufgebaut; winzige Territorien, abgegrenzt durch Mauerschutt oder Stücke halbverrotteten Mobiliars. Und weiße Gesichter starrten aus Kopftüchern und Kapuzen und Zeltöffnungen: größtenteils magere, dünne Gesichter mit großen Augen, als seien diese Menschen bereits im Begriff, sich der immerwährenden Dunkelheit in diesen Bereichen anzupassen. Eine andere Rasse. Gloriana blieb betroffen stehen. »Wer sind diese Leute?« flüsterte sie.
    Eine hochgewachsene Gestalt hatte sich von ihrem Platz erhoben und stand einen Augenblick lang als schwarze Silhouette vor ihnen, als wollte sie den Ankömmlingen entgegentreten. Dann sprang sie fort in tiefere Dunkelheit und war verschwunden.
    Erfüllt von Bangigkeit, faßte Una die Königin beim Ärmel. »Nein«, bat sie. »Wir müssen umkehren.«
    Tallow zeigte sich erheitert. »Sie ist scheu, die verrückte Frau. Sie geht uns allen aus dem Wege. Aber Ihr solltet sie nicht fürchten.«
    In den Gesichtern dieser Verlorenen war keine Neugierde, und Tallow grüßte keinen von ihnen. Es schien, als ob er sich nicht als Teil des Stammes betrachtete. Er stellte ihn mit einer distanzierten, selbstbewußten Haltung vor, die zu seiner selbsterwählten Rolle als Fremdenführer paßte. »Unter diesen Men schen sind Herren und Damen von Stand, wie Ihr. Die meisten behaupten natürlich ein wenig vornehmer zu sein, als sie es tatsächlich waren. Aber warum sollten sie nicht? Hier schaffen sie sich selbst und ihre Umgebung von neuem. Es ist alles, was sie haben.«
    Aber Gloriana war endlich von ihrer Faszination losgekommen und befand sich auf dem Rückzug, angesteckt von Unas Entsetzen.
    Tallow rief ihnen nach, aber sie beachteten ihn nicht und liefen durch die Gänge zurück bis zu dem Raum, wo sie dem kleinen Mann zuerst begegnet waren. Atemlos hasteten sie durch winklige, enge Gänge, Treppen hinauf und hinunter, immer in Angst, daß sie sich verlaufen hätten, obwohl sie den Weg mittlerweile kannten: durch den Saal und die Galerie mit den Holzschnitzereien, die ihnen jetzt bedrohlich erschienen, und weiter durch die engen Fluchtgänge zu Unas Räumen, wo sie sich keuchend durch den Wandschrank zwängten und die Schiebetür hinter sich zustießen.
    Gloriana war blasser als die Nomaden des Untergrunds. Schnaufend lehnte sie in ihrer staubigen Höflingskleidung an der Wand. Sie machte mehrere Anläufe, etwas zu sagen, war jedoch so außer Atem, daß es ihr nicht gelang. »Wir müssen es vergessen«, sagte Una. »Oh, Majestät, ich bin so töricht und unvorsichtig gewesen! Wir müssen es vergessen.«
    Königin Gloriana richtete sich auf. Vor ihrem Auge erstand von neuem die hochgewachsene Silhouette vor dem Feuer, und neuer Schrecken überfiel sie. Ihr Antlitz war ohne Ausdruck erstarrt, und Tränen rannen von ihren Augen. »Ja«, sagte sie, »es muß vergessen werden.«

    DAS FÜNFZEHNTE KAPITEL

    Lord Montfallcon ist bestürzt über ihm zugetragene Nachrichten und
    beginnt seine schlechte Diplomatie zu bedauern

    Lord Montfallcon lag allein in seinem ansehnlichen Bett, während seine Frauen einander im Nebenzimmer unter Gewisper und Gekeuche Salben in die Wunden rieben. Er fühlte sich an diesem Morgen unzufrieden, unversöhnt mit der Welt und verabscheute sich selbst. Nachts hatte die Akustik der verwünschten Entlüftungsgänge ihm wieder Glorianas Stimme zugetragen, mitleiderregend und voll Kummer, bis er seine Frauen geweckt hatte, damit ihre Schreie die der Königin übertönten. Nun bewegte er seinen kräftigen alten Körper unter der Decke, tadelte sich wegen seines

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