Google-Mitarbeiter Nr. 59
verlangte? Fairerweise muss ich sagen, wenn Sergey einen Hammer genommen und das Bild der polierten perfekten Marke demoliert hätte, die ich mit zu Google gebracht hatte, wäre ich auch verwirrt gewesen. Wir waren ein Unternehmen, eine legale Firma, die ein Produkt nur deshalb anbot, um damit Geld zu verdienen – aber jetzt führten wir uns auf wie ein wohlmeinender Schaulustiger, der versuchte, ein Autowrack wiederzubeleben. Sollten wir professionelle Zurückhaltung üben, statt übereilter HTML auszuspucken, die unsere Homepage in ein Chaos verwandelte?
Und dann gab es noch jene, die fanden, dass wir nicht genug taten. Ein deutscher User schlug vor, wir sollten unser Logo schwarz färben. Steve Schimmel aus der Geschäftsentwicklung war der Meinung, dass es unserer Reaktion an Menschlichkeit fehle – wir sollten eine Trauerbotschaft auf die Homepage setzen. Cindy und ich widersprachen beidem. Es war nicht angemessen, eine Beileidsbekundung zu veröffentlichen, während es weiter Nachrichten hagelte. Würden wir heuchlerisch wirken? Unbeholfen? Oder schlimmer noch, als versuchten wir aus einer nationalen Tragödie Kapital zu schlagen? Ich wollte keine übereilten Entscheidungen treffen, die wir später möglicherweise bereuten. Ich sah bereits, wie um uns herum verstörender Opportunismus entstand. Eine Nachrichtenorganisation äußerte die Bitte, weiter oben auf der Liste zu erscheinen, während andere wissen wollten, warum ihre Wettbewerber aufgeführt wurden und sie nicht. Das Gerangel um die besten Plätze wurde stündlich schlimmer.
Ich vertraute Steve meine Überzeugung an, dass es eine überwältigende Tragödie trivialisieren würde, wenn wir unsere persönliche Betroffenheit durch unser Logo oder die Homepage zum Ausdruck bringen würden. Die Wunde sei zu frisch, als dass wir den Schmerz äußern sollten, den wir alle fühlten. Was ich ihm nicht sagte, war, dass Google meiner Meinung nach selbstherrlich auftreten würde, wenn es vermeldete: »Seht uns an. Seht, wie wichtig wir sind. An diesem Tag der Verzweiflung geben wir auf unserer Homepage eine Stellungnahme ab. Ist das nicht außerordentlich?«
Wie gewöhnlich war Sergey zur Stelle, um mein Dilemma zu verschärfen. »Ich möchte eine Trauerbekundung auf unsere Website stellen«, sagte er. »Beileid aussprechen und einen Link zu weiterführenden Informationen ergänzen.« Also gut. Ich entwarf den Text und schickte ihn Sergey – zusammen mit meinen Vorbehalten, was das Timing anging. Er fegte meine Bedenken einfach weg und wies mich an, am nächsten Tag einen Link anzubieten, der auf unseren Ausdruck der Sorge und Unterstützung verwies.
Erschüttert und niedergeschlagen ging ich an diesem Abend nach Hause. Zumindest hatte ich mich der Illusion hingeben können, etwas Nützliches zu tun, statt herumzusitzen und hilflos zuzusehen.
»So geht Google also mit einer Krise um«, dachte ich, während ich bis spät in die Nacht E-Mails las. Wir hatten keinen umfassenden Plan parat, aber es brach weder Panik noch Chaos aus. In dieser ungewöhnlichen Situation taten die Leute das, was sie am besten konnten, und überlegten, wie sie noch mehr tun könnten. Wir bearbeiteten Probleme, entwickelten Lösungen und diskutierten ruhig strittige Themen. Schließlich trafen unsere Führungskräfte eine Entscheidung und beendeten dadurch die Debatte und wir gingen voran.
Der nächste Tag fing nicht gut an. Die Washington Post interpretierte die Meldung, mit der wir Usern rieten, die Fernsehgeräte einzuschalten, als Eingeständnis unsererseits, dass Google den steigenden Datenverkehr nicht bewältigen könne. User fragten, warum wir unser Logo nicht abgeändert hätten, um den Todesopfern eine Ehre zu erweisen, oder zumindest eine Flagge auf unsere Homepage gesetzt hätten, um uns mit unseren Landsleuten solidarisch zu erklären. Schließlich änderten wir unser Logo doch aus viel banaleren Gründen. Warum jetzt nicht? Ich habe bereits erklärt, warum ich Vorbehalte gegenüber einem Gedenk-Logo habe, das Platzieren einer Flagge auf unserer Homepage lehnte ich aus anderen Gründen ab. Mit unserer Flagge zu wedeln sandte die falsche Botschaft. Es machte mich körperlich krank, dass unser Land angegriffen wurde, aber ich wollte nicht, dass Google eine reflexartige nationalistische Geste von sich gab, nur um zu beweisen, dass wir loyale Amerikaner waren. Zu viele Menschen hatten vor dem 11. September moralische Überlegenheit für sich beansprucht, weil sie Flaggen in
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