Gott geweiht
seine Uhr und stellte erstaunt fest, wie spät es war.
»Fahren Sie heute Abend noch zurück nach Philadelphia?«
»Ja, ich treffe mich morgen mit meinem Vater. Er bereitet einen Vortrag für die Vidocq Society vor.«
»Toll«, sagte Lee. »Und Ihr Vater ist da Mitglied?«
»Ja, schon seit zehn Jahren.«
Die Vidocq Society in Philadelphia war nach François Vidocq benannt, einem brillanten Kriminellen und späteren Detektiv, der im 18. Jahrhundert in Frankreich gelebt hatte. Die Gesellschaft hatte sich der Aufklärung von Verbrechen verschrieben, die die Polizei aufgegeben hatte, und nahm Aufträge aus aller Welt entgegen. Mitglied konnte man nur werden, wenn man von der Society berufen wurde, und es gab wohl keinen einzigen lebenden Forensiker, der das nicht als große Ehre betrachtet hätte.
»Wie oft finden die Treffen der Gesellschaft statt?«, fragte Lee.
»Einmal im Monat im Public Ledger Building. Es ist sehr schön dort, mit orientalischen Teppichen und schweren Vorhängen. Erinnert an alte englische Clubs. Sherlock Holmes’ Bruder Mycroft wäre begeistert gewesen.«
»Sind Sie ein Fan von Arthur Conan Doyle?«
Sie lächelte leicht. »Wer denn nicht?«
»Ihr Vater ist also Vidocq-Mitglied. Sehr beeindruckend. Ist er ebenfalls Anthropologe?«
»Nein, forensischer Toxikologe.«
»Hat das ursprünglich Ihr Interesse an der Forensik geweckt?«
»Gewissermaßen.«
»Bestimmt ist er stolz auf Sie.«
»Das denke ich schon. Sie wissen ja, wie Väter sind.«
Lee begleitete sie noch die Treppe zur U -Bahn hinunter und wartete mit ihr auf den Zug. Am Sonntag fuhren die Bahnen nicht so häufig, und Lee wünschte, ihre würde niemals kommen. Doch dann erschienen im Tunnel zwei Lichter wie die gelben Augen eines mystischen Ungeheuers, und die Linie Neun fuhr ratternd in den U-Bahnhof ein.
»Okay«, sagte Kathy. »Dann bis bald, meine Nummer haben Sie ja.«
Im letzten Moment drehte sie sich zu ihm um und küsste ihn auf den Hals. Sie hatte wohl seine Wange treffen wollen, aber sie war so viel kleiner als er und verpasste das Ziel in der Eile.
Lee drehte den Kopf und wollte sich gerade revanchieren, aber da kam der Zug endgültig zum Stehen, die Türen öffneten sich, und Kathy lief zum nächsten Waggon und stieg ein. Die Türen schlossen sich wieder, und der Zug ratterte davon. Lee blieb allein zurück und starrte auf den Bahnsteig. Zum ersten Mal seit dem Tod seiner Schwester, seit dem 11. September und den Schrecken der letzten Wochen konnte er sich wieder vorstellen, wie es war, sich gut zu fühlen. Er ging auf die Treppe zu. Es hatte aufgehört zu regnen, und so beschloss er, die kurze Strecke bis zur East Seven Street zu laufen.
Der Angriff schien aus dem Nichts zu kommen.
Der erste Schlag traf Lee vollkommen unerwartet. Es war ein Karatehieb in den Nacken. Lee taumelte nach vorn. Dann wirbelte er herum, weil er den Angreifer sehen wollte, doch ein weiterer Schlag erwischte ihn von hinten genau auf den Nieren. Lee knallte hart auf die Knie, wurde von groben Händen wieder aufgerichtet, nur um sofort weiter geprügelt zu werden. Die meisten Schläge gingen auf den Körper, wofür er seltsamerweise dankbar war – er hasste Schläge ins Gesicht. Schmerzhaft waren sie natürlich trotzdem. Hier waren eindeutig Profis am Werk, so gezielt und schnell, wie zugeschlagen wurde. Lee bekam gar nicht erst die Chance, sich zu wehren.
In weniger als zwei Minuten war alles vorbei. Die Angreifer ließen ihn zusammengekrümmt auf dem Bahnsteig zurück, wo er angeschlagen und benommen Halt an einer Wand suchte. Das Einzige, was er später mit Sicherheit sagen konnte, war, dass die beiden Männer von kräftiger Statur gewesen waren und Skimasken getragen hatten.
Er hatte noch den Klang ihrer sich entfernenden Schritte im Ohr, als er das Bewusstsein verlor.
KAPITEL 36
»Verdammt noch mal, Lee, hör auf mit dem Quatsch, und geh zum Arzt, okay?«, schimpfte Chuck, während sie durch das Labyrinth von Fluren im Gebäude der Gerichtsmedizin gingen. Jeder Schritt klapperte laut auf dem gebohnerten Boden und hallte von den gekachelten Wänden der Korridore wider.
»Mir geht es gut«, sagte Lee, als sie auf dem Weg zur Eingangshalle um eine Ecke bogen. Das Licht der Neonleuchten über ihnen ließ sein Gesicht krankhaft gelb wirken, und Chuck überlegte, ob er darin genauso schlecht aussah wie sein Freund.
»Es macht aber nicht den Eindruck«, widersprach Chuck und betrachtete ihn von der Seite. Ihm reichte es langsam
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