Gott oder Zufall?
auch im jeweiligen Netzwerk der Beziehungen und Interaktionen mit der weiteren sozialen Umgebung des jeweiligen Betroffenen. Der Körper ist dabei in ein vielfältiges Bedeutungsgeflecht eingebunden, zu dem das Leben von Menschen in der Gemeinschaft gehört. Eine Heilung kann einen chirurgischen Eingriff erfordern, muss dabei aber natürlich die Verkettungen von Beziehungen miteinbeziehen.
Berichte über Funktionsstörungen
– ohne dabei weder den Leib noch die Netzwerke und Interaktionen innerhalb einer größeren sozialen Umgebung zu vernachlässigen – befassen sich ebenfalls mit dem Verhältnis des Betroffenen zur Welt im Großen und Ganzen und mit unausgeglichenen, gestörten Erfahrungen. Die Wiederherstellung des Wohlbefindens wäre in diesem Fall gleichbedeutend damit, »die Welt wieder zusammenzubauen« oder ansonsten ein kosmisches Ungleichgewicht zu beseitigen.
Wenn wir in erster Linie in leiblichen Begrifflichkeiten denken, verlangt eine Heilung unbedingt körperliche Eingriffe oder einen Einsatz von Medikamenten. Die Menschen in den biblischen Erzählungen hatten jedoch über Krankheiten eine eher ganzheitliche Auffassung. Die Ursache dafür lag für sie zuweilen in ihrem gesellschaftlichen Umfeld, manchmal sogar im großen Universum – eher als im kranken Leib selbst. Demnach kann eine Heilung zur Folge haben, die Belastungen durch soziale Beziehungen, körperliche Eingriffe oder durch die Beseitigung eines kosmischen Ungleichgewichts abzubauen. Wer also einem biomedizinischen Verständnis von Krankheit und Heilung zuneigt, wird im Allgemeinen ausführen müssen, was er für das menschliche Wohlbefinden für bedeutsam hält, um Belange wie intakte Beziehungen und das Leben in der Gemeinschaft mit einzuschließen.
Das bedeutet nicht, dass man seine Sorge um den Leib als unwichtig abtun sollte; eine solche Annahme würde nur die eine Form von Reduktionismus durch eine andere ersetzen.
Ein Beispiel für all das ist die »Lepra«, eine »Krankheit«, die sowohl im Alten als auch im Neuen Testament auftaucht. In den biblischen Erzählungen zählt die »Lepra« zu einer Reihe von Hautleiden, und nur ganz selten, wenn überhaupt, wird damit die echte Lepra oder Hansen-Krankheit oder der »Aussatz« bezeichnet. Daher übersetzen manche moderne Fassungen die maßgeblichen hebräischen und griechischen Wörter mit »Hautkrankheit«. Nach Levitikus 13–14 sind solche Hautkrankheiten ein Zeichen für einen Fluch Gottes über eine Person und machen diese von einem religiösen Standpunkt aus gesehen »unrein«. Wer von einem Priester als Leprakranker diagnostiziert wurde, wird an den Rand der menschlichen Gesellschaft verbannt: »Der Aussätzige, der von diesem Übel betroffen ist, soll eingerissene Kleider tragen und das Kopfhaar ungepflegt lassen; er soll den Schnurrbart verhüllen und ausrufen: Unrein! Unrein! Solange das Übel besteht, bleibt er unrein; er ist unrein. Er soll abgesondert wohnen, außerhalb des Lagers soll er sich aufhalten« (Levitikus 13,45–46).
John Wesley (1703–1791) predigt. © © Art Archive/ www.picture-desk.com /City Temple/London/Eileen Tweedy
In der Bibel war die »Lepra« damals nicht unbedingt lebensbedrohend und auch nicht ansteckend. Die biblischen Berichte über die Lepra befassen sich nicht mit der Verbreitung eines Krankheitserregers. Leprakranke sollen isoliert werden, aber nicht aufgrund einer biomedizinischen Notwendigkeit. Es ist die
Funktionsstörung
der Lepra, ihre Unordnung, die sich durch körperlichen Kontakt überträgt. Die Seuche wird nicht durch einen krank machenden Mikroorganismus verursacht, sondern durch den sozio-religiösen Zustand der rituellen Unreinheit.
Biblische Lepra-Erzählungen veranschaulichen, wie sich religiöse, gesellschaftliche und körperliche Aspekte in einer einzigen Funktionsstörung vereinen. Den Evangelien zufolge wird das Eingreifen Jesu eher als »Reinigung« oder »Läuterung« denn als Heilung eingestuft. Und zwar deshalb, weil religiöse Unreinheit das vorrangig anstehende Problem darstellt und die Intervention Jesu von Anweisungen gefolgt wird wie dieser bei Lukas 5,12–14: »… zeig dich dem Priester …« Hier nimmt der Priester die Rolle dessen ein, den wir vielleicht als Gesundheitsberater bezeichnen würden. Der Priester heilt den Patienten zwar nicht, attestiert ihm aber, dass er genesen ist, und vermittelt dem ehemaligen Leprakranken eine Rückkehr in das normale Gemeinschaftsleben
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