Gottes Tochter
Staunen sah er Steffen zu, wie dieser den Flaschenhals in den Mund steckte und trank, den Kopf im Nacken, mit herunterhängenden Armen. Dann öffnete er den Mund und fing die Flasche in der Luft auf.
»Ich weiß doch, wo du dich immer mit Rosa getroffen hast, weiß ich alles, hat sie mir alles erzählt!«
Rico geriet in einen Zustand bestalischer Panik. Alles, was er eben noch gedacht hatte, schien wie bei einer Explosion aus seinem Kopf zu fliegen, in alle Richtungen, aus allen Poren. Was immer er zu Julika gesagt hatte, was immer er überlegt und vorgehabt hatte – es hatte keinen Wert mehr, und er wusste nicht, wo er einen neuen Wert hernehmen sollte. Er hörte das Plätschern der Wellen im Stadthafen, das Klappern der Fahnenstangen, und ein Auto fuhr vorüber, dessen Lichter seinen Kopf zu durchleuchten schienen.
»Brauchst dich nicht fürchten, Rico, ich kann mein Maul halten!«
Rico schaute zu Steffen hoch, der einen Kopf größer war. Rico betrachtete Steffens Schädel und das weiße Sweatshirt unter der offenen Daunenjacke. »Bist du jetzt ein Nazi geworden?«, sagte er und begriff nicht, wieso er das sagte.
»Geht dich das was an?«, brüllte Steffen und schlug ihm mit der flachen Hand gegen die Brust. Rico rutschte aus und fiel hin.
»Bleib liegen!« Steffen klemmte sich den Flaschenhals zwischen die Zähne, und Rico hörte das Klacken. Das Klacken. Zähne auf Glas. Er sprang auf und sah die Flasche senkrecht in den schwarzen Himmel ragen und hatte keinen Gedanken, keinen Plan, nicht einmal Hass. Seine Faust traf die Flasche genau in der Mitte. Das Glas zerbrach, und Splitter rieselten Steffen in die Augen, was Rico nicht bemerkte. Er schlug ein zweites Mal zu, auf die schon abgebrochene Flasche, es knirschte eigenartig.
Steffen röchelte und kippte nach hinten, und während er fiel, drehte er sich ein wenig zur Seite und schlug mit dem Gesicht auf dem Asphalt auf. Rico hörte wieder ein Knirschen, und diesmal klang es ekelhaft. Er musste an einen Besuch beim Zahnarzt denken, als ihm zwei Backenzähne gezogen worden waren. Dann sah er Steffen auf dem Bürgersteig liegen, sein Körper zuckte, sein kahler Kopf trommelte auf dem Asphalt, Regentropfen spritzen von der Schädeldecke. Überall Scherben, unübersehbar viele Scherben. Rico rannte los. Er rannte durch die Grubenstraße, bog in eine Seitenstraße, lief im Kreis, wischte sich den Regen aus den Augen, kratzte sich mit beiden Händen am Kopf, zog den Reißverschluss der Jeansjacke auf, sie flatterte an seinem mageren Körper, und er spürte, wie sein T-Shirt nass wurde, und je nasser es wurde, desto schneller lief er.
Auf dem Marktplatz gegenüber dem Rathaus fiel er auf die Knie und sah hinüber zu der rosafarbenen Barockfassade, die von einem milden Licht beleuchtet wurde. Dieses Licht beruhigte ihn eigentümlich. Er hatte das Gebäude tausendmal gesehen, und seine Geschichte war ihm komplett egal. Jetzt jedoch erschien es ihm ehrwürdig und einladend, als würde er, wenn er hineinginge, Verständnis und Trost erfahren. Nur ein paar Meter entfernt brannten die Lichter eines Hotels. Plötzlich glaubte Rico, er sei nicht zufällig hierher gelaufen. So ein merkwürdiges Ziel, dachte er beim Aufstehen. Und dann dachte er an seinen Freund.
Ihm war kalt, seine Kleidung war durchnässt, seine Haare waren schweißverklebt, in den Turnschuhen sammelte sich das Wasser, und da er keine Socken trug, machte er beim Gehen quietschende Geräusche.
An der Giebelfront las er den Namen des Hotels. Das Foyer war hell erleuchtet. Hinter den meisten Fenstern in den Stockwerken darüber war es dunkel. Rico sah durch die Fenster des Restaurants und der Bar. Niemand saß dort. Aus einem Kellerlokal führte eine Treppe hinauf zum Gehsteig, über dem Eingang stand: »Alte Apotheke«.
In diesem Hotel, daran erinnerte er sich jetzt, wohnte der Polizist, er hätte zu ihm gehen und ihm alles erzählen können. Auch daran hatte er vorhin auf dem Marktplatz gedacht. Nein, dachte er, das war ein idiotischer Gedanke. Er müsste nicht nur erklären, warum und wie er seinem Freund die Flasche in den Hals gestoßen hatte. Hatte er das überhaupt getan? Er wusste es nicht mehr. Er hörte das Splittern des Glases. Und das Klacken von Steffens Zähnen auf der Flasche, vorher, bevor er aufgesprungen war und zugeschlagen hatte. Wie zugeschlagen? Nicht nur darüber würde er sprechen müssen, sondern auch, wo und warum er Julika versteckte und warum er sie geschlagen hatte. Er
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