Grabmoosalm (German Edition)
selbst hatte keinen eigenen. Sie fuhr zum Parkhaus P6 und fand
eine Lücke ziemlich weit unten auf dem dritten Deck. Die Sissi ließ sie nach
gütigem Zuspruch im Auto, den Pfeiferl nahm sie mit.
Warum nicht?, dachte sie, als sie den Max-Josefs-Platz überquerte
und fast über das Eiscafé unter den Arkaden stolperte. Der Pfeiferl wünschte
sich eine Kugel Pfefferminzeis und eine mit Burger-Geschmack. Sie selbst blieb
herkömmlich bei einer Kugel Himbeer und einer Stracciatella. Nein danke, ohne
Sahne.
Als die Resi mit der Eiswaffel in der einen Hand und dem Pfeiferl an
der anderen über den Platz trabte, war der um drei Uhr nachmittags in die
dumpfe Lethargie verfallen, welche die Trägheit der Stadtbürger, ihr Büro- und
Mittagsschlaf und der Südostwind an manchen Tagen verbreiteten. Nur wenige
Gesichter waren unterwegs, und alle waren so ausdrucksvoll wie Orangen im
Kühlschrank.
»Ein herzliches Servus, Resi!«, grüßte der Weber Lenz laut und
herzlich schon aus dreißig Metern Entfernung.
Sie hätte ihn fast nicht erkannt, obwohl er in der Berufsschule nur
ein Jahr vor ihr gewesen war. Doch seither hatte sie ihn nur ein, zwei Mal
getroffen. Achtundzwanzig oder neunundzwanzig musste der Lenz inzwischen sein.
Er kam ihr vor wie ein Liliputaner. Ein kleines, ziemlich rundes Männlein mit
zerknittertem Gesicht, Goldrandbrille und einer dünnen fahlblonden Strähne, die
er über den Schädel gekämmt hatte. Wegen seines rechten Beins, das er nachzog,
sah es so aus, als machte er bei jedem zweiten Schritt einen Hüftschwenker, so
wie der Kasperl beim Schäfflertanz.
»Servus, Lenz«, sagte die Resi und hielt den Pfeiferl fest an der Hand.
»Wo treibst dich denn allweil so rum? Was machst denn so?«
Er grinste über das ganze faltige Gesicht. »Ich bin bei der Presse«,
verkündete er fröhlich.
»He, da schau her, bei der Presse. Als was denn? Als fliegender Reporter?«
Der Lenz verzog das Gesicht. »Ich arbeit in der Druckerei.«
»Ah so«, sagte die Resi und reichte dem Pfeiferl ihr restliches Eis.
Seines war wie vom Erdboden verschwunden. »Und? Dann liest du ja alles, was
gedruckt wird, schon am Tag vorher. Was gibt’s denn Neues?«
Der Lenz drehte sich einmal um die eigene Achse und hielt mit
ausgestrecktem Zeigefinger inne. »Ah«, sagte er leise flüsternd.
Mit übertriebener Geste schlug er den Hemdkragen hoch und scannte
die Umgebung mit wachen Augen.
»Du kannst es morgen in der Zeitung lesen. Die Tochter von meinem
obersten Chef ist verschwunden. Die Arabella. Elf Jahre alt.«
Wer sich eingebildet hätte, dass das die Resi auch nur im
Entferntesten interessierte, hätte sich gewaltig getäuscht gehabt.
Aber den Pfeiferl interessierte es.
»Didididadidit!«, flötete er. »Dadadaaaaaaaaadididit!«
Was wohl so viel heißen sollte wie »Da schau her! Endlich amoi a spannende
Nachricht. Die Aradingsda is ungefähr so oit wia i. Und? Was machmer jetzt da
draus?«
Den orangefarbenen Oldtimer-Porsche, der vor Tagen im Hof
der Grabmoosalm geparkt hatte, hatte sie schon von Weitem kurz vorm Eingang zum
Stift entdeckt. Die Resi entließ den Pfeiferl für zehn Sekunden aus ihrer
Obhut, faltete die Hände und schickte im Gehen ein kurzes Stoßgebet zum Himmel.
Der Raubvogel im schwarzen Gewand an der Pforte hatte sie schon
kommen sehen.
»Avemariapurissima«, murmelte die Ordensschwester routinemäßig und
hob die Augen zur Decke. Was ihrer Miene nach zu schließen so viel bedeuten
sollte wie: »Ach, du lieber Gott, was bringst du wieder für Unheil, geliebte
Mitschwester.«
Die Resi nickte nur.
Der Pfeiferl unterdrückte ein Pfeifen. Das heißt, er sagte nichts.
Er schwieg. Das war klug von ihm.
»Sie wollen zu Ihrer Großmutter?«, wurde die Resi gefragt.
»Ja frei–«
»Da komm ich grad her«, ertönte eine kräftige Männerstimme von oben.
Der Kriminaler!, schoss es der Resi durch den Kopf.
Er war es tatsächlich. Joe Ottakring.
Locker kam er die Treppe herunter und stellte sich vor der Resi auf.
»Sie wollen die Oma besuchen?«, fragte er und zog die Augenbrauen
hoch.
»Ja freili. Ich mach eine Stippvisite«, sagte die Resi. »Will nur schauen,
wie’s ihr geht.«
»Ja, das ging mir grad so«, sagte der Kriminalrat. »Jetzt weiß
ich’s.«
Mehr sagte er nicht.
In raumgreifenden Schritten bog er um die Ecke in einen langen Flur
ein.
Die Resi sah ihm lange nach. Wo will der noch hin?, fragte sie sich
verwundert.
»Dadadadidididit!«, sagte der Pfeiferl. (»Den hammer doch
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