Granatsplitter
hätte er seine Stellung als Anführer verloren.
An diesem Tag waren sie mit einigen älteren Jungen aus der Nachbarschaft zu den Bahngleisen gegangen. Ohne diese Dreizehn- bis Vierzehnjährigen wäre es wahrscheinlich gar nicht zur Schlägerei gekommen. Aber die Älteren auf beiden Seiten fingen an, sich gegenseitig beleidigende Schimpfworte an den Kopf zu werfen, so als ob man längst auf eine Gelegenheit zum Kampf gewartet hätte. Eigentlich hatten sie nichts Besonderes gegeneinander. Die Zigeunerjungen waren eben nur in dieser Gegend und hatten etwas zum Fürchten an sich, ihre braunen Gesichter und ihre bunten Kittel. Sie waren ihnen völlig fremd und sprachen auch irgendwie unverständlich. Wieso taten sie so, als ob sie hier das Sagen hätten? Jedenfalls begann mit einem Male einer der älteren Zigeunerjungen ihren Anführer direkt anzugehen, und die allgemeine Prügelei begann. Er geriet direkt an einen von gleicher Größe, der zwar kein Messer, dafür aber einen Knüppel bei sich hatte. Bevor der diesen ausschwingen konnte, hatte er ihn niedergerungen und auf den Boden drücken können. Als ihm selbst die Kraft auszugehen drohte, ihn in dieser Stellung zu halten, kam eine Radfahrerkolonne von Polizisten mit Tschakos vorbeigeradelt und fuhr zwischen den Tumult von sich prügelnden Jungen, sie sofort trennend, wobei die Zigeunerjungen es schafften, unbemerkt zu verduften, ohne verfolgt zu werden. Ein paar der Kaninchengrassucher bluteten, aber es war nichts Schlimmes passiert. Kein Messer war gezogen worden. Die Messer der Zigeuner waren nicht so gefährlich wie ihre Hunde, die sie dieses Mal aber nicht dabeihatten. Die Schupos schrieben sich einige Namen auf, auch seinen, und erklärten, es würde höchste Zeit, dass sie sich im Jungvolk benehmen lernten, und sie fragten auch, wer im Jungvolk sei. Aber da die meisten das zehnte Lebensjahr noch nicht erreicht hatten, blieb es bei einer mageren Verwarnung ohne Folgen.
Er hatte diese Gegend an den Bahngleisen gerne, denn es gab dort viele Schrebergärten, wohin ihn der irische Großvater mehrfach mitgenommen hatte. Einer gehörte dessen bestem Freund. Der hieß Hannes, wurde manchmal aber auch Schinderhannes genannt, nämlich von der Tante, die den Mann greulich fand. Auch die Großmutter konnte ihn nicht leiden und wollte nicht, dass der Großvater und der Junge mit dem Fahrrad dort hinaus fuhren. Aber der Großvater setzte seinen schwarzen Hut mit der roten Feder auf und zog seine schönen alten Zimmermannsgesellenhosen an, die nach unten immer breiter wurden und kleine silberne Glöckchen hatten. Und der Junge kam auf die Stange des Fahrrads. Hannes oder Schinderhannes lebte alleine in einer Bretterhütte in seinem Schrebergarten, die so düster wie ein Loch war und merkwürdig roch. Der Grund waren die vielen Katzen, die herumschlichen und böse fauchten, wenn Besucher kamen. Die Bretterhütte war vollgestellt mit Tierköpfen, Geweihen, ausgestopften Vögeln und alten Zeitungen. Der Junge wusste, warum die Tante den Mann Schinderhannes nannte. Das war vor hundert Jahren ein Räuber am Rhein gewesen, zwischen Hunsrück und Westerwald, der schließlich gefangen und geköpft worden war. Und der Freund des Großvaters sah so finster aus, dass man Angst vor ihm bekommen konnte. Dabei holte er immer einen großen Rodonkuchen mit Rosinen aus dem Schrank und machte schwarzen Kaffee mit Zucker, von dem der Junge auch etwas trinken musste. Dazu gab es kleine Gläser mit Schnaps, aber nur für die Alten. Das war eine Art reiner Alkohol, den der finstere Freund selbst herstellte. Großvater und Hannes saßen dann an einem Tisch, auf dem zwei Laternen mit Kerzen standen, sodass der größere Teil des Raumes weiter im Dunkeln blieb, aus dem nur die Augen der Katzen starrten.
Der Junge kam sich vor wie im Märchen. Das alte Haus des Großvaters war ja auch voller Wunder, aber nicht unheimlich. Hier war alles unheimlich, vor allem der Mann selbst. Er verstand eigentlich nie, worüber der Großvater mit Hannes redete. Es kamen fremde, völlig unbekannte Namen und Orte vor. War Hannes überhaupt aus Deutschland? Woher und seit wann kannten sie sich? Er fragte den Großvater nie danach. Es passte nicht, so etwas zu fragen. Der Mann blieb für ihn immer derselbe: der, der in der düsteren Hütte wohnte am Bahndamm. Hannes durfte niemals ins Haus des Großvaters zu Besuch kommen. Das hatte die Großmutter verboten. Wahrscheinlich kam er niemals in die Stadt. Was er brauchte,
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