Grant County 05 - Gottlos
für mich zu tun?»
Sie sah ihn durchdringend an, dann verließ sie plötzlich das Untersuchungszimmer. Er fragte sich, ob das eine Aufforderung war, ihr zu folgen, als sie mit einem Buch in der Hand zurückkam.
«Ich weiß nicht, ob ich es dir schenken oder an den Kopf werfen soll.»
«Was ist das?»
«Ich habe es vor ein paar Monaten bestellt», erklärte sie. «Letzte Woche ist es gekommen. Es sollte mein Einzugsgeschenk an dich werden.» Sie hielt das Buch hoch, damit er den Titel auf dem braunen Schuber lesen konnte. «‹Ander sonville ›von MacKinlay Kantor», sagte sie und fügte hinzu: «Die Erstausgabe.»
Jeffrey starrte das Buch an. Er klappte ein paarmal den Mund auf und zu, bevor er etwas sagen konnte. «Das muss ein Vermögen gekostet haben.»
Mit einem spöttischen Blick überreichte sie es ihm. «Damals dachte ich noch, du bist es wert.»
Vorsichtig nahm er das Buch aus dem Schuber und wog es ehrfürchtig in den Händen. Das Leinen war blau und weiß, der Goldschnitt leicht verblasst. Behutsam schlug er die erste Seite auf. «Es ist signiert! MacKinlay Kantor hat es signiert.»
Sie zuckte die Achseln, als wäre das nichts Besonderes. «Ich wusste, dass es dein Lieblingsbuch ist …»
«Dass du daran gedacht hast», brachte Jeffrey schließlich heraus. Er hatte einen Kloß im Hals. «Wahnsinn.»
Als er ein Teenager war, hatte ihm Miss Fleming, seine Englischlehrerin, beim Nachsitzen das Buch in die Hand gedrückt. Damals war Jeffrey ein hoffnungsloser Rowdy und hatte sich mehr oder weniger damit abgefunden, als Schrauber oder Fabrikarbeiter zu enden – oder, noch schlimmer, als Kleinganove wie sein Vater. Aber die Geschichte, die er da las, hatte etwas tief in ihm berührt und hatte seinen Wissensdurst geweckt. Dieses Buch hatte sein Leben geändert.
Ein Psychologe hätte wahrscheinlich eine Verbindung zwischen Jeffreys Faszination für das berüchtigtste Gefangenenlager des Bürgerkriegs und dem Polizistenberuf gesehen, aber in Jeffreys Augen hatte «Andersonville» ihm die Fähigkeit zum Mitgefühl vermittelt, die ihm bis dahin fehlte. In dem Sommer bevor er nach Grant County kam, um den Posten des Polizeichefs zu übernehmen, war er nach Fort Sumter in Georgia gefahren, um sich den Ort mit eigenen Augen anzusehen. Er erinnerte sich daran, dass ihm eine Gänsehaut über den Rücken lief, als er innerhalb der Palisaden im Lager stand. Über dreizehntausendGefangene waren in den vier Jahren gestorben, in denen das Gefängnis existierte. Jeffrey hatte dort gestanden, bis die Sonne untergegangen und nichts mehr zu sehen war.
Sara fragte: «Gefällt es dir?»
«Es ist wunderschön», stammelte er. Er fuhr mit dem Daumen über den Goldschnitt. Kantor hatte den Pulitzer-Preis für das Buch bekommen. Jeffrey hatte ihm sein Leben zu verdanken.
«Ich habe gehofft, dass es dir gefällt.»
«Das tut es.» Er hätte gern etwas Tiefsinniges gesagt, um das Ausmaß seiner Dankbarkeit auszudrücken, aber alles, was ihm einfiel, war: «Warum gibst du es mir jetzt?»
«Weil du es haben sollst.»
Nur halb im Spaß fragte er: «Als Abschiedsgeschenk?»
Sie fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und ließ sich Zeit mit der Antwort. «Einfach, weil du es haben sollst.»
Aus dem Empfangsbereich meldete sich eine Männerstimme: «Chief?»
«Brad», stellte Sara fest. Sie trat auf den Flur. «Hier hinten», rief sie, bevor Jeffrey noch etwas sagen konnte.
Brad kam herein, den Hut in einer Hand, ein Mobiltelefon in der anderen. «Sie haben Ihr Telefon auf dem Revier liegenlassen.»
Jeffrey sah ihn mit einem Anflug von Ärger an. «Deswegen bist du den ganzen Weg hierhergekommen?»
«N-n-nein, Sir», stotterte der junge Polizist. «Ich meine, ja, Sir, aber wir haben eben einen Anruf reinbekommen.» Er holte Luft. «Vermisste Person. Weiblich, einundzwanzig Jahre alt, braune Haare, braune Augen. Zuletzt gesehen vor zehn Tagen.»
«Bingo», hörte er Sara flüstern.
Jeffrey griff nach seiner Jacke und dem Buch. Er drückte Sara das neue Mobiltelefon in die Hand und sagte: «Ruf mich an, sobald bei der Obduktion was rauskommt.» Bevor sie etwas entgegnen konnte, wandte er sich an Brad: «Wo ist Lena?»
FÜNF
Lena wäre gerne joggen gegangen, aber in Atlanta hatte man ihr gesagt, sie solle ein paar Wochen keinen Sport treiben. Heute Morgen war sie so lange wie möglich im Bett geblieben und hatte sich schlafend gestellt, bis Nan das Haus verließ. Dann hatte sie einen kleinen Spaziergang gemacht. Sie
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