Grant County 05 - Gottlos
standen herum, als warteten sie auf etwas. Erst als sie Jeffreys Blick auffing, verstand Lena. «Ich gehe ihr zur Hand», sagte sie.
Als sie Esther in den Flur folgte, wirkten die Männer erleichtert, und sie hörte, wie Lev über etwas lachte, das sie nicht mitbekam. Wahrscheinlich ging es darum, dass Frauen an den Herd gehörten. In dieser Familie schienen noch die alten Gesetze zu gelten: Die Männer trafen die Entscheidungen, die Frauen kümmerten sich ums Haus.
Auf dem Weg zur Küche ließ Lena sich Zeit und sah sich suchend nach einer Erklärung um, was an den Bewohnern des Hauses so merkwürdig war. Drei geschlossene Türen auf der rechten Seite des Flurs führten wahrscheinlich zu den Schlafzimmern. Links befanden sich das Wohnzimmer und eine Bibliothek mit Bücherregalen, die vom Boden bis zur Decke reichten, was Lena überraschte. Aus irgendeinem Grund hatte Lena angenommen, christliche Fanatiker lasen keine Bücher.
Falls Esther so alt war, wie sie aussah, musste ihr Bruder Lev um die fünfzig sein. Er war ein einnehmender Redner mit der Stimme eines Baptistenpredigers. Lena hatte sich nie für rothaarige Männer interessiert, doch irgendwie hatte er etwas Anziehendes an sich. Er erinnerte sie ein bisschen an Sara Linton. Beide strahlten die gleiche Art von Urvertrauen aus, was Lena bei Sara eigentlich eher abschreckend fand. Bei Lev dagegen hatte es eine beruhigende Wirkung. Als Gebrauchtwagenhändler hätte er viel Geld verdienen können.
«Oh –» Esther erschrak, als Lena in die Küche kam. Sie hielt ein Foto in der Hand, und sie schien zu zögern, bevor sie es Lena zeigte. Schließlich nahm sie sich zusammen und reichte Lena das Bild. Es zeigte ein Mädchen mit Zöpfen, ungefähr zwölf Jahre alt.
«Abby?», fragte Lena, obwohl sie sofort erkannte, dass es das Mädchen war, das Jeffrey und Sara im Wald gefunden hatten.
Esther sah Lena eindringlich an, als versuchte sie, ihre Gedanken zu lesen. Doch dann schien sie zu beschließen, dass sie es gar nicht wissen wollte, denn sie wandte sich wieder der Küchenarbeit zu und kehrte Lena den Rücken.
«Abby trinkt schrecklich gerne Limonade», seufzte sie. «Am liebsten süß, was nicht unbedingt mein Geschmack ist.»
«Meiner auch nicht», sagte Lena, nicht weil es stimmte, sondern weil sie sich mit Esther solidarisieren wollte. Seit sie das Haus betreten hatte, fühlte sie sich unbehaglich. Und als Polizistin hatte sie gelernt, ersten Eindrücken zu vertrauen.
Esther schnitt eine Zitrone durch und drückte sie mit der Hand über einem Sieb aus. Nach und nach presste sie sechs Zitronen, und die Schale unter dem Sieb füllte sich langsam.
«Kann ich helfen?», fragte Lena. Die einzigen Getränke, die sie selber machte, kamen aus der Tüte und gingen erst mal in den Mixer.
«Es geht schon», wehrte Esther ab, doch dann, als wollte sie Lena nicht vor den Kopf stoßen, erklärte sie: «Der Krug steht über dem Herd.»
Lena ging an den Schrank und nahm den großen Kristallkrug herunter. Er war schwer und wahrscheinlich antik. Mit beiden Händen stellte sie ihn auf die Küchentheke.
Sie überlegte, was sie sagen sollte. «Das Licht ist schön hier drin», bemerkte sie dann. An der Decke hing eine Neonleuchte, doch sie brannte nicht. Stattdessen fiel Tageslicht durch drei große Fenster über der Spüle und zwei Oberlichter über dem Küchentisch. Wie der Rest des Hauses war die Küche ein schmuckloser Raum, und Lena fragte sich, warum Menschen sich dafür entschieden, in solcher Kargheit zu leben.
Esther blickte hinauf in das Licht. «Ja, es ist schön, nicht wahr? Ephraims Vater hat das Haus mit seinen eigenen Händen gebaut.»
«Sind Sie schon lange verheiratet?»
«Zweiundzwanzig Jahre.»
«Und Abby ist Ihr ältestes Kind?»
Lächelnd nahm sie noch eine Zitrone aus dem Korb. «Ja, das ist sie.»
«Und die beiden Kinder draußen?»
«Rebecca und Zeke», erklärte Esther mit dem gleichen stolzen Lächeln. «Becca ist meine Tochter. Zeke ist der Sohn von Lev und seiner seligen Frau.»
«Zwei Töchter, das muss schön sein», stellte Lena fest und kam sich idiotisch dabei vor.
Esther rollte eine Zitrone über das Brett, um sie weich zu machen. «Ja», sagte sie, doch Lena hatte ihr Zögern bemerkt.
Durchs Küchenfenster blickte Lena auf die Viehweide hinaus. Eine Gruppe von Kühen ruhte im Schatten unter einem Baum. «Die Farm auf der anderen Seite», begann sie.
«Die Genossenschaft», sagte Esther. «Dort habe ich Ephraim kennengelernt.
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