Grant County 05 - Gottlos
Er fing an, ach, das muss gewesen sein gleich nachdem Papa den zweiten Abschnitt kaufte, Anfang der Achtziger. Bald darauf haben wir geheiratet und sind hier eingezogen.»
«Damals müssen Sie in Abbys Alter gewesen sein», schätzte Lena.
Esther blickte auf, als hätte sie nie darüber nachgedacht. «Ja», sagte sie. «Sie haben recht. Ich war verliebt und bin zu Hause ausgezogen. Die ganze Welt lag mir zu Füßen.» Sie presste eine weitere Zitrone in das Sieb.
«Der ältere Mann, den wir gesehen haben», setzte Lena an, «Cole?»
Esther lächelte. «Er ist von Anfang an dabei gewesen. Papa hat ihn vor vielen Jahren aufgelesen.»
Lena wartete, doch mehr kam nicht. Wie Lev schien Esther nicht viel von Cole preisgeben zu wollen, und das machte Lena erst recht neugierig.
Sie dachte an die Frage, die sie Lev gestellt hatte, und beschloss, es noch einmal zu versuchen. «Ist Abby früher schon mal ausgerissen?»
«O nein, dafür ist sie nicht der Typ.»
«Was für ein Typ ist sie denn?» Lena fragte sich, ob die Mutter wusste, dass ihre Tochter schwanger war.
«Abby hängt sehr an ihrer Familie. Sie würde niemals etwas so Egoistisches tun.»
«Mädchen in diesem Alter tun manchmal Dinge, ohne darüber nachzudenken.»
«Das ist eher Beccas Sache», sagte Esther.
«Rebecca ist eine Ausreißerin?»
Esther überging die Frage und erklärte stattdessen: «Abby hat diese rebellische Phase nie gehabt. In dieser Hinsicht ähnelt sie mir sehr.»
«Wie meinen Sie das?»
Esther wollte etwas sagen, aber dann überlegte sie es sich anders. Sie nahm den Krug und gab den Zitronensaft hinein. Dann ging sie an die Spüle, drehte den Wasserhahn auf und ließ das Wasser laufen, bis es kalt wurde.
Lena konnte nicht sagen, ob die Frau von Natur aus so wortkarg war oder ob sie ihre Antworten zensierte, weil sie Angst hatte, ihrem Bruder könnte zu Ohren kommen, dass sie hinter seinem Rücken zu viel verriet. Irgendwie musste Lena die Frau aus der Reserve locken. «Bei uns bin ich die Jüngste gewesen», sagte sie wahrheitsgemäß, auch wenn es sich nur um ein paar Minuten handelte. «Ich habe mir dauernd Ärger eingehandelt.»
Esther brummte zustimmend, sagte aber nichts dazu.
«Es ist schwer zu verstehen, dass die eigenen Eltern auch nur Menschen sind», fuhr Lena fort. «Den ganzen Tag kämpft man darum, dass sie einen wie einen Erwachsenen behandeln, aber umgekehrt hat man weniger Verständnis.»
Esther warf über die Schulter einen Blick in den Flur, dannsagte sie: «Rebecca ist letztes Jahr ausgerissen. Am nächsten Tag war sie wieder da, aber sie hat uns einen furchtbaren Schrecken eingejagt.»
«Und Abby ist nie verschwunden?», fragte Lena noch einmal.
Esthers Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. «Manchmal ging sie rüber auf die Farm, ohne uns Bescheid zu sagen.»
«Auf die andere Seite der Straße?»
«Ja, auf die andere Seite der Straße. Es klingt vielleicht albern, dass wir uns deswegen Sorgen gemacht haben. Die Farm gehört schließlich zu unserem Anwesen. Abby war die ganze Zeit in Sicherheit. Aber wir sind unruhig geworden, als sie nicht zum Abendessen kam und wir noch nichts von ihr gehört hatten.»
Lena begriff, dass sie von einem einzelnen Ereignis sprach, nicht von etwas, das öfter vorkam. «Abby hat drüben übernachtet?»
«Bei Lev und Papa. Sie und Mary wohnen zusammen. Meine Mutter starb, als ich drei Jahre alt war.»
«Wer ist Mary?»
«Meine ältere Schwester.»
«Ist sie älter als Lev?»
«O nein, Lev ist der Älteste. Dann kommt Mary, dann Rachel, dann Paul und dann ich.»
«Eine große Familie», sagte Lena und hatte im Stillen den Verdacht, dass Esthers Mutter an Erschöpfung gestorben sein musste.
«Papa war ein Einzelkind. Er wollte viele Kinder um sich haben.»
«Ihrem Vater gehört die Farm?»
«Die Farm gehört der Familie und ein paar Investoren», erklärte Esther. Sie öffnete einen Schrank und nahm ein Paket Zucker heraus. «Papa hat sie vor über zwanzig Jahren gegründet.»
Lena versuchte, ihre Frage diplomatisch zu formulieren. «Ich dachte, Genossenschaften gehören den Arbeitern.»
«Alle Arbeiter haben die Möglichkeit, in die Farm zu investieren, wenn sie zwei Jahre lang dabei sind», erklärte Esther und maß eine Tasse Zucker ab.
«Woher kommen die Arbeiter?»
«Die meisten sind aus Atlanta.» Sie rührte die Limonade mit einem Holzlöffel um. «Manche von ihnen sind nur auf der Durchreise, suchen für ein paar Monate Ruhe bei uns. Manche finden hier
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