Grant County 05 - Gottlos
erfahren, er fragte weder nach den Familienzusammenhängen noch nach der Farm. «Gibt es jemanden auf der Farm, mit dem Abby besonders viel Zeit verbracht hat? Vielleicht einer der Feldarbeiter?»
Wieder antwortete Rachel: «Wir haben ihr nur wenig Kontakt zu den Arbeitern erlaubt.»
«Aber sicher kennt Abby einige von ihnen», meinte Jeffrey und nippte an seiner Limonade. Den Impuls, sich zu schütteln, schien er mit aller Macht unterdrücken zu müssen, während er das Glas auf dem Kaminsims abstellte.
Lev sagte: «Natürlich ist sie bei den Versammlungen dabei, aber ansonsten bleiben die Arbeiter meistens unter sich.»
Esther erklärte: «Wir wollen niemanden diskriminieren, aber die Feldarbeiter gehören zu einer raueren Sorte Mensch. Abby hat nichts mit ihnen zu tun, weil wir das so wollen. Sie weiß, dass sie sich von ihnen fernzuhalten hat.»
«Aber sie hat auch mal auf dem Feld gearbeitet?», fragte Lena, die sich an die Unterhaltung mit Esther erinnerte.
«Ja, aber nur im Kreis der Familie. Meistens zusammen mit ihren Vettern und Basen. Wir sind eine große Familie», sagte Lev.
Esther zählte auf: «Rachel hat vier Kinder, Paul sechs. Marys Söhne leben in Wyoming und …»
Sie beendete den Satz nicht. «Und?», wiederholte Jeffrey.
Rachel räusperte sich, aber es war Paul, der schließlich erklärte: «Sie kommen nicht oft her», sagte er. Lena spürte, wie sich die Anspannung in seiner Stimme im ganzen Raum breitmachte. «Sie sind schon seit längerem nicht mehr hier gewesen.»
«Seit zehn Jahren», seufzte Mary und sah zur Decke, als versuchte sie, Tränen zurückzuhalten. Lena fragte sich, ob Marys Söhne zu denen gehörten, die schreiend davongelaufen waren. Lena hätte es mit Sicherheit getan.
Mary fuhr fort: «Sie haben einen anderen Weg gewählt. Ich bete jeden Tag für sie, wenn ich morgens aufstehe und wenn ich abends zu Bett gehe.»
Bevor Mary das Gespräch auf unabsehbare Zeit an sich reißen konnte, wandte sich Lena an Lev: «Sind Sie verheiratet?»
«Ich bin Witwer.» Zum ersten Mal zeichneten sich in seinem Gesichtsausdruck Gefühle ab. «Meine Frau ist vor einigen Jahren im Kindbett verstorben.» Er lächelte traurig. «Bei der Geburt unseres ersten Kindes, leider. Ezekiel ist mein ganzer Trost.»
Jeffrey ließ eine taktvolle Pause verstreichen, bevor er weiter nachhakte. «Sie haben also angenommen, Abby wäre bei ihren Eltern, und ihre Eltern haben gedacht, sie wäre bei Ihnen. Wann sind Sie zur Mission aufgebrochen? Vor zehn Tagen?»
Esther antwortete: «Genau.»
«Und diese Missionen unternehmen Sie etwa viermal im Jahr?»
«Ja.»
«Sie sind ausgebildete Krankenschwester?»
Lena war überrascht, als Esther nickte. Die Frau hatte sie mit lauter nutzlosen Informationen über sich versorgt. Dass sie diesen einen Punkt nicht erwähnt hatte, fand Lena verdächtig.
Esther erklärte: «Ich habe am Georgia Medical College gelernt, als Ephraim und ich heirateten. Papa war der Ansicht, es wäre gut, wenn jemand auf der Farm Erste Hilfe leisten könnte, und keine von meinen Schwestern kann Blut sehen.»
«Das stimmt», bestätigte Rachel.
Jeffrey fragte: «Kommt es hier häufig zu Unfällen?»
«Gott sei Dank nicht. Vor drei Jahren hat sich ein Mann die Achillessehne durchtrennt. Es war fürchterlich. Während meiner Ausbildung habe ich zwar gelernt, wie man Blut stillt, aber viel mehr konnte ich nicht für ihn tun. Wir bräuchten wirklich einen Arzt in der Nähe.»
«Wer ist denn Ihr Arzt?», fragte Jeffrey. «Sie haben doch auchKinder hier.» Wie zur Erklärung setzte er nach: «Meine Frau ist Kinderärztin in Heartsdale.»
«Sara Linton. Natürlich», warf Lev ein. Er lächelte erfreut.
«Sie kennen Sara?»
«Vor sehr langer Zeit sind wir zusammen zur Sonntagsschule gegangen.» Lev sagte es in einem Tonfall
,
als hätten sie damals viele Geheimnisse miteinander geteilt.
Lena merkte Jeffrey an, dass ihn diese Vertrautheit störte; sie wusste nur nicht, ob es Eifersucht war oder reiner Beschützerinstinkt.
Wie gewöhnlich ließ sich Jeffrey von seinen Gefühlen nicht ablenken und setzte die Befragung fort, indem er sich an Esther wandte: «Telefonieren Sie denn nicht miteinander?» Esther sah ihn verwirrt an, und er erklärte: «Wenn Sie in Atlanta sind, rufen Sie nicht zu Hause an, um zu fragen, ob es den Kindern gutgeht?»
«Sie sind doch bei der Familie», erwiderte sie mit unveränderter Stimme, aber das Blitzen in ihren Augen verriet Lena, dass sie sich beleidigt
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