Grant County 05 - Gottlos
fühlte.
Rachel kam ihrer Schwester zu Hilfe. «Wir stehen uns sehr nahe, Chief Tolliver, falls Ihnen das noch nicht aufgefallen ist.»
Jeffrey steckte die Rüge besser weg, als Lena es gekonnt hätte. Er fragte Esther: «Können Sie mir sagen, wann genau Sie Abbys Verschwinden bemerkt haben?»
«Wir sind erst gestern am späten Abend zurückgekommen», antwortete Esther. «Als Erstes waren wir drüben auf der Farm, um uns bei Papa zu melden und Abby und Becca abzuholen …»
«Becca hatten Sie auch nicht mitgenommen?», fragte Lena.
«Natürlich nicht», entgegnete Esther entrüstet. «Sie ist erst vierzehn.»
«Richtig», sagte Lena, die keine Ahnung hatte, wie alt man für eine Reise durch die Obdachlosenheime von Atlanta sein musste.
«Becca war bei uns», erklärte Lev. «Sie und mein Sohn Zeke sind unzertrennlich.» Er fuhr fort: «Als Abby am ersten Abend nicht zum Essen kam, ist Becca davon ausgegangen, dass Abby es sich im letzten Moment anders überlegt hätte und doch mit nach Atlanta gefahren wäre. Das schien ihr so naheliegend, dass sie es am Tisch nicht mal erwähnte.»
«Ich würde gerne mit ihr sprechen», sagte Jeffrey.
Offenbar behagte Lev der Gedanke ganz und gar nicht, dennoch nickte er widerwillig. «Gut.»
Jeffrey hakte erneut nach. «Gab es keinen Mann in Abbys Leben? Keinen Jungen, der ihr den Hof machte?»
«Ich weiß, dass das bei einem Mädchen in ihrem Alter schwer zu glauben ist», entgegnete Lev, «aber Abby hat ein sehr behütetes Leben geführt. Sie wurde zu Hause unterrichtet. Sie weiß nicht viel von der Welt da draußen. Wir wollten sie in Atlanta darauf vorbereiten, aber sie sträubte sich dagegen. Sie zog das klösterliche Leben hier auf dem Land vor.»
«Sie hat Sie bei anderen Missionsfahrten begleitet?»
Esther sagte: «Ja. Zweimal. Es hat ihr nicht gefallen. Sie war nicht gerne weg von zu Hause.»
«‹Klösterlich› ist ein interessanter Ausdruck», stellte Jeffrey fest.
«Ich weiß, es klingt, als würde sie wie eine Nonne leben», sagte Lev, «und vielleicht ist das gar nicht so falsch. Sie ist sehr fromm. Ihr größtes Anliegen ist, unserem Herrn zu dienen.»
Ephraim murmelte: «Amen.» In Lenas Ohren klang es genauso automatisch, als hätte er «Gesundheit» gesagt, weil jemand nieste.
Esther erklärte: «Sie hatte einen sehr starken Glauben.» Als ihr klar wurde, was sie gesagt hatte, hielt sie sich die Hand vor den Mund. Zum ersten Mal hatte sie von ihrer Tochter in der Vergangenheit gesprochen. Rachel griff nach ihrer Hand.
Jeffrey setzte seine Befragung fort: «Gab es jemanden, der ihrbesonders viel Aufmerksamkeit geschenkt hat? Vielleicht ein bisschen zu viel? Ein Fremder vielleicht?»
«Wir haben viele Fremde hier, Chief Tolliver», entgegnete Lev. «Es liegt in der Natur der Sache, dass wir Fremde zu uns nach Hause einladen. ‹Die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus›, bittet uns Jesaja. Es ist unsere Pflicht, sie aufzunehmen.»
«Amen», sagte der Rest der Familie im Chor.
Jeffrey fragte Esther: «Erinnern Sie sich, was sie anhatte, als Sie sie zum letzten Mal gesehen haben?»
«Ja, natürlich.» Esther zögerte einen Moment, als fürchtete sie, die Erinnerung könnte einen Damm von Gefühlen aufbrechen, die sie bisher zurückgehalten hatte. «Wir hatten ihr gemeinsam ein blaues Kleid genäht. Abby hat gern genäht. Das Schnittmuster hatten wir in einem alten Koffer auf dem Boden gefunden, der noch Ephraims Mutter gehört hat. Wir haben ein paar Veränderungen vorgenommen, um es ein bisschen moderner zu machen. Sie hatte es an, als wir uns verabschiedeten.»
«Das war hier im Haus?»
«Ja, am frühen Morgen. Becca war schon rüber zur Farm gelaufen.»
Mary bemerkte: «Becca war bei mir.»
«An was erinnern Sie sich noch?», fragte Jeffrey.
Esther sagte: «Abby ist ein sehr ruhiges Mädchen. Als Kind ist sie nie zornig gewesen. Sie ist etwas ganz Besonderes.»
Als Lev sprach, war seine Stimme sehr ernst, sodass seine Worte nicht wie ein Kompliment an seine Schwester klangen, sondern wie eine objektive Feststellung. «Abby sieht ihrer Mutter sehr ähnlich, Chief Tolliver. Sie haben das gleiche Haar, die gleichen mandelförmigen Augen. Sie ist ein sehr attraktives Mädchen.»
Lena sprach seine Worte im Stillen nach und fragte sich, ob er zu verstehen geben wollte, dass er seine Nichte für begehrenswert für andere Männer hielt oder ob er etwas über sich selbstverriet. Sie wurde aus dem Kerl nicht schlau. In einem Moment
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