Grant County 05 - Gottlos
wirkte er offen und ehrlich, und im nächsten hätte Lena ihm nicht einmal geglaubt, wenn er behauptet hätte, der Himmel sei blau. Der Prediger war offensichtlich nicht nur das Oberhaupt der Freikirche, sondern auch das der Familie, und sie hatte ganz eindeutig das Gefühl, dass er weitaus gewiefter war, als er durchblicken ließ.
Esther berührte gedankenverloren ihre eigenen Haare: «Ich erinnere mich, dass ich ihr eine Schleife ins Haar gebunden habe. Eine blaue Schleife. Ephraim hatte das Auto schon gepackt, und wir wollten gerade losfahren, da habe ich die Schleife in meiner Handtasche gefunden. Ich hatte sie aufgehoben, und sie passte so gut zu ihrem Kleid. Also rief ich sie zu mir, und Abby beugte sich vor, während ich ihr die Schleife ins Haar band …» Ihre Stimme verlor sich, und Lena sah, wie sie schluckte. «Sie hat so weiches Haar …»
Rachel drückte ihrer Schwester die Hand. Esther starrte aus dem Fenster, als wäre sie lieber dort draußen, weit, weit weg von hier. Lena kannte diesen Verdrängungsmechanismus nur zu gut. Es war leichter, sich von den Dingen zu distanzieren, als die Gefühle zuzulassen.
Paul sagte: «Rachel und ich leben mit unseren Familien auch drüben auf der Farm. Natürlich hat jeder sein eigenes Haus, aber wir wohnen nahe beieinander. Als wir Abby gestern Abend nicht finden konnten, haben wir alles durchsucht. Wir haben die Arbeiter rausgeschickt. Wir haben die Häuser und die Wirtschaftsgebäude durchsucht, vom Keller bis zum Boden. Als wir sie nicht gefunden haben, haben wir den Sheriff gerufen.»
«Es tut mir leid, dass er erst so spät reagiert hat», sagte Jeffrey. «Die Jungs drüben haben viel zu tun.»
«Ich kann mir nicht vorstellen», entgegnete Paul, «dass man in Ihrem Geschäft viel Aufhebens macht, wenn ein einundzwanzigjähriges Mädchen verschwindet.»
«Wie meinen Sie das?»
«Die jungen Dinger reißen doch ständig aus, nicht wahr?», sagte er. «Wir sind hier nicht vollkommen blind für das, was in der Außenwelt vorgeht.»
«Ich kann Ihnen nicht ganz folgen.»
«Ich bin das schwarze Schaf in der Familie», erklärte Paul, und an der Reaktion seiner Geschwister sah Lena, dass es sich um einen alten Familienwitz handelte. «Ich bin Rechtsanwalt. Ich regele alles Juristische, was mit der Farm zu tun hat. Meine Kanzlei ist in Savannah. Jede zweite Woche bin ich in der Stadt.»
«Waren Sie letzte Woche hier?», fragte Jeffrey.
«Nein, ich bin erst gestern Nacht gekommen, als ich von der Sache mit Abby hörte», antwortete er, und es wurde still im Zimmer.
«Wir haben Gerüchte gehört», sagte Rachel und kam endlich zur Sache. «Schreckliche Gerüchte.»
Ephraim legte sich die Hand auf die Brust. Seine Finger zitterten. «Sie haben sie gefunden, nicht wahr?»
«Ich fürchte, ja, Sir.» Jeffrey griff sich in die Brusttasche und nahm ein Polaroidfoto heraus. Ephraims Hände zitterten so sehr, dass Lev das Foto für ihn entgegennahm. Lena beobachtete, wie die Männer das Bild ansahen. Während Ephraim gefasst und ruhig blieb, stöhnte Lev und schloss die Augen. Lena sah, wie seine Lippen ein stilles Gebet sprachen. Ephraim konnte den Blick nicht von dem Foto abwenden. Das Zittern war jetzt so stark geworden, dass der ganze Sessel zu wackeln schien.
Hinter ihm stand Paul mit unbewegtem Gesicht und betrachtete das Foto. Lena sah ihn prüfend an, doch sein Gesicht gab nichts preis. Bis auf den zuckenden Adamsapfel bewegte er sich nicht.
Esther räusperte sich. «Darf ich?», fragte sie. Sie schien gefasst, doch die Angst und der schwelende Schmerz dahinter waren nicht zu übersehen.
«Ach, Mutter», seufzte Ephraim mit rauer Stimme. «Du kannst es dir ansehen, wenn du möchtest, aber bitte, vertrau mir, du willst sie so nicht sehen. Du möchtest sie nicht so in Erinnerung behalten.»
Esther fügte sich dem Wunsch ihres Mannes, doch Rachel griff nach dem Foto. Lena sah, wie sie die Lippen zusammenpresste. «Lieber Gott», flüsterte sie. «Warum?»
Ob mit Absicht oder nicht, Esther blickte ihrer Schwester über die Schulter und sah das Foto ihres toten Kindes. Ihre Schultern zuckten, dann ging das Beben in krampfartiges Schütteln über, und sie begrub das Gesicht in den Händen. «Nein!», schluchzte sie.
Mary hatte die ganze Zeit still in ihrem Sessel gesessen, doch plötzlich stand sie auf, legte sich die Hand auf die Brust und lief aus dem Zimmer. Sekunden später hörten sie, wie die Küchentür zuschlug.
Lev blickte seiner Schwester
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