Grant County 05 - Gottlos
schweigend nach, und obwohl Lena seinen Gesichtsausdruck nicht deuten konnte, hatte sie das Gefühl, dass er den melodramatischen Abgang seiner Schwester missbilligte.
Er räusperte sich, dann fragte er: «Chief Tolliver, können Sie uns sagen, was passiert ist?»
Jeffrey zögerte, und Lena fragte sich, wie viel er preisgeben würde. «Wir haben sie im Wald gefunden», sagte er. «In einer Kiste unter der Erde.»
«O Herr», hauchte Esther und beugte sich vor, als hätte sie Schmerzen. Rachel strich ihr über den Rücken, auch ihre Lippen zitterten, und Tränen strömten ihr über das Gesicht.
«Sie ist erstickt», erklärte Jeffrey, ohne ins Detail zu gehen.
«Meine Kleine», stöhnte Esther. «Meine arme Abigail.»
Die Kinder vom Schweinestall stolperten durch die Tür, und krachend fiel das Fliegengitter hinter ihnen ins Schloss. Die Erwachsenen zuckten zusammen.
Ephraim war der Erste, der sprach. Offensichtlich rang er um Fassung. «Zeke, was haben wir dir über die Tür gesagt?»
Zeke versteckte sich hinter Levs Bein. Er war ein schmächtiges Kind, und noch wies nichts darauf hin, dass er einmal so groß wie sein Vater würde. Seine Arme waren dünn wie Streichhölzer. «Tut mir leid, Onkel Eph.»
«Tut mir leid, Papa», sagte Becca, auch wenn sie es gar nicht gewesen war. Sie war ebenfalls spindeldürr, und Lena hätte das Mädchen nie auf vierzehn geschätzt. Die Kleine war jedenfalls noch nicht in der Pubertät.
Mit zitternden Lippen starrte Zeke seine Tante an. Er spürte, dass etwas nicht stimmte. Tränen schossen ihm in die Augen.
«Komm her, mein Kind», sagte Rachel und zerrte Zeke auf ihren Schoß. Sie nahm ihn in den Arm und streichelte ihn tröstend. Sie versuchte, ihre eigene Trauer zu bezwingen, doch sie verlor den Kampf.
Rebecca war an der Tür stehengeblieben. «Was ist passiert?»
Lev legte ihr die Hand auf die Schulter. «Der Herr hat deine Schwester zu sich genommen.»
Die Augen des Mädchens weiteten sich. Sie öffnete den Mund und legte sich die Hand auf den Bauch. Als sie versuchte, eine Frage zu formulieren, kamen keine Worte heraus.
Lev sagte: «Lasst uns zusammen beten.»
«Was?», hauchte Rebecca, als wäre alle Luft aus ihrem Leib entwichen.
Niemand antwortete ihr. Alle außer Rebecca senkten den Kopf. Lena hätte eine mitreißende Predigt von Lev erwartet, aber stattdessen breitete sich Schweigen aus.
Rebecca blieb stehen, mit der Hand auf dem Bauch und weit aufgerissenen Augen, während der Rest der Familie betete.
Lena warf Jeffrey einen fragenden Blick zu. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie war nervös und fühlte sich fehl am Platz. Hank hatte es aufgegeben, Lena und Sibyl in die Kirche zuschleppen, nachdem Lena die Bibel eines anderen Mädchens zerrissen hatte. Sie war den Umgang mit religiösen Menschen nicht gewohnt, es sei denn, sie kamen zu ihr aufs Revier.
Jeffrey zuckte nur die Achseln und nippte an seiner Limonade. Unwillkürlich zog er den Kopf ein, und sie sah, wie er das Gesicht verzog.
«Es tut mir leid», sagte Lev. «Was können wir tun?»
Jeffrey klang, als würde er eine Liste vorlesen. «Wir brauchen die Personalakte jedes Mitarbeiters der Farm. Ich möchte mit allen sprechen, die im letzten Jahr irgendwie in Kontakt mit Abigail waren. Wir werden ihr Zimmer durchsuchen. Ich würde auch gern den Computer mitnehmen, den Sie erwähnt haben, um zu prüfen, ob jemand über das Internet Kontakt zu ihr aufgenommen hat.»
Ephraim wandte ein: «Aber sie war nie allein mit dem Computer.»
«Trotzdem, Mr. Bennett. Wir müssen jeder Spur nachgehen.»
«Sie machen nur ihre Arbeit, Ephraim», sagte Lev. «Es ist deine Entscheidung, aber ich finde, wir sollten helfen, wo wir können, und sei es auch nur, um Möglichkeiten auszuschließen.»
Jeffrey nahm ihn beim Wort. «Hätten Sie etwas gegen einen Test mit dem Lügendetektor?»
Paul unterdrückte ein Lachen. «Kommt nicht in Frage.»
«Sprich hier bitte nicht für mich, Paul», erwiderte Lev. Zu Jeffrey sagte er: «Wir tun alles, was wir können, um Sie zu unterstützen.»
Paul entgegnete: «Ich glaube nicht, dass –»
Esther richtete sich auf, ihr Gesicht von Kummer erfüllt, ihre Augen rot unterlaufen. «Bitte, streitet euch nicht», bat sie ihre Brüder.
«Wir streiten nicht», sagte Paul, doch er klang, als hätte er es auf Streit abgesehen. Über die Jahre hatte Lena gelernt, dassTrauer die wahre Persönlichkeit der Menschen hervorkehrte. Sie spürte die Spannung zwischen Paul und
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