Grant County 05 - Gottlos
seinem älteren Bruder und fragte sich, ob es die übliche Rivalität unter Geschwistern war oder ob mehr dahintersteckte. Esthers Ton ließ darauf schließen, dass dies nicht ihre erste Auseinandersetzung war.
Lev hob die Stimme, sprach jetzt aber zu den Kindern. «Re becca , bitte geh mit Zeke in den Garten, ja? Deine Tante Mary ist draußen, und ich glaube, sie braucht euch jetzt.»
«Warten Sie», warf Jeffrey ein. «Ich habe ein paar Fragen an Rebecca.»
Paul legte seiner Nichte die Hand auf die Schulter. «Fragen Sie», sagte er gebieterisch, als wollte er Jeffrey wissen lassen, wer hier das Sagen hatte.
Jeffrey fragte: «Rebecca, weißt du, ob deine Schwester einen Freund hatte?»
Das Mädchen sah zu ihrem Onkel hoch, als müsste sie erst um Erlaubnis bitten. Schließlich blickte sie wieder zu Jeffrey. «Sie meinen einen Jungen?»
«Ja», sagte er, und Lena hörte ihm an, dass er sein Unterfangen für sinnlos hielt. Vor der ganzen Familie würde das Mädchen nie und nimmer etwas sagen, erst recht nicht, da sie die Rebellischere der Töchter zu sein schien. Nur wenn man sie allein vernahm, hatte man eine Chance, die Wahrheit von ihr zu erfahren, und Lena hatte berechtigte Zweifel, dass Paul – oder sonst einer der Männer – sein Einverständnis dazu gab.
Wieder sah Rebecca ihren Onkel an, bevor sie redete. «Abby durfte sich nicht mit Jungs verabreden.»
Falls Jeffrey auffiel, dass sie der Frage auswich, ließ er es sich nicht anmerken. «Hast du dich gewundert, dass sie nicht auf die Farm kam, nachdem deine Eltern weg waren?»
Lena beobachtete Pauls Hand auf der Schulter des Mädchens und versuchte zu erkennen, ob er Druck ausübte. Es war nichts zu sehen.
«Rebecca?», fragte Jeffrey.
Das Kinn des Mädchens zuckte. «Ich dachte, sie hat es sich anders überlegt.» Dann fragte sie: «Ist sie wirklich …»
Jeffrey nickte. «Leider, ja», sagte er. «Deswegen brauchen wir deine Hilfe, um herauszufinden, wer das getan hat.»
Tränen schossen ihr in die Augen, und beim Anblick seiner Nichte schien auch Levs Fassung zu bröckeln. «Wenn Sie nichts dagegen haben …» Als Jeffrey nickte, sagte er zu Rebecca: «Geh raus und nimm Zeke mit zu Tante Mary, Liebling. Alles wird wieder gut.»
Kaum waren die Kinder draußen, kam Paul wieder zurück zum Geschäft. «Ich muss Sie daran erinnern, dass unsere Personalakten eher bescheiden sind. Wir bieten Kost und Logis für ehrliche Arbeit.»
«Sie zahlen keinen Lohn?», platzte Lena heraus.
«Natürlich zahlen wir Lohn», schoss Paul zurück. Er schien solche Fragen öfter zu hören. «Manche nehmen das Geld, andere spenden es lieber unserer Kirche. Manche der Arbeiter sind seit zehn, zwanzig Jahren bei uns und hatten noch nie einen Geldschein in der Tasche. Dafür bekommen sie bei uns einen sicheren Ort zum Wohnen, eine Familie und das Bewusstsein, dass ihr Leben nicht vergeudet ist.» Er machte eine Geste, die das Zimmer, die Farm, das Leben hier einschloss, genau wie es seine Schwester zuvor in der Küche getan hatte. «Wir leben hier in aller Bescheidenheit, Detective. Unser Ziel ist es, anderen zu helfen, nicht uns selbst.»
Jeffrey räusperte sich. «Trotzdem möchten wir mit allen sprechen.»
Paul schlug vor: «Den Computer können Sie gleich mitnehmen. Wenn Sie wollen, schicke ich die Leute, mit denen Abby zu tun hatte, gleich morgen früh auf Ihr Revier.»
«Aber die Ernte», erinnerte ihn Lev, dann erklärte er: «Wir haben uns auf Edamame spezialisiert, die jungen grünen Sojabohnen.Die Ernte muss zwischen Sonnenaufgang und neun Uhr morgens verrichtet werden, danach werden die Bohnen sofort weiterverarbeitet und gekühlt. Es ist ein äußerst arbeitsintensiver Vorgang, und wir setzen keine Maschinen ein.»
Jeffrey sah aus dem Fenster. «Können wir nicht jetzt gleich rübergehen?»
«Wir möchten dieser Sache genauso dringend auf den Grund gehen wie Sie», begann Paul, «aber wir haben auch ein Geschäft, das weiterlaufen muss.»
Lev fügte hinzu: «Und wir müssen unsere Arbeiter respektieren. Sie verstehen sicher, dass manche von ihnen etwas nervös auf Polizisten reagieren. Manche von ihnen waren Opfer von Polizeigewalt, andere haben Haftstrafen abgesessen und sind sehr misstrauisch. Außerdem haben wir Frauen und Kinder hier, die zu Hause verprügelt wurden, ohne dass ihnen die Polizei zu Hilfe gekommen wäre …»
«Schon verstanden», sagte Jeffrey, als würde er diese Ansprache nicht zum ersten Mal hören.
«Sie befinden sich hier
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