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Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)

Titel: Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Schlögel
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war vor allem die geringe Leistungsfähigkeit der auf Leibeigenschaft beruhenden Landwirtschaft, die in Konflikt geriet mit den steigenden – finanziellen, militärischen – Bedürfnissen des Zarenreiches. Und es waren nicht primär humane Motive, die die Leibeigenschaft 1861 schließlich abschafften, sondern die geringe Produktivität, die Agonie der Gutsbesitzerwirtschaft, die mit der neuen Konkurrenz auf dem Markt nicht mithalten konnte. Nun erst kam die Scheidung von Stadt und Land in Gang, und wir beobachten einen rapiden Urbanisierungsprozess, zunehmende Wanderung vom Land in die Stadt, die Entstehung neuer Klassenverhältnisse: von Unternehmern, Kaufleuten, Arbeitern und dem sogenannten »Dritten Element«, also den freien Berufen.
    Das zweite entscheidende Moment ist die Stellung der Arbeit. Die Arbeit der Leibeigenen war unfreie Arbeit, Arbeit für andere, bald als Fron, bald als Zins, sie war ein Fluch, sie trug gerade so viel bei, die Familie und die Dorfgemeinschaft zu ernähren. Das russische Dorf ist nicht eine Ansammlung von unabhängigen Bauernwirtschaften, sondern eine Siedlung, um die Leibeigenen des Gutsbesitzers zu ernähren, ein Anhängsel der Gutswirtschaft. Dies gilt selbst für die Manufakturen und Fabriken, die nicht durch freiwillige Arbeit, sondern auf Befehl des Zaren mit leibeigenen Arbeitern eingerichtet wurden.
    Es gab niemals die Vorstellung, dass man es nur durch Arbeit zu etwas bringen könne – zu Wohlstand oder zu einem Platz im himmlischen Reich –, Vorstellungen, die in der Entstehung des westlichen Kapitalismus eine so große Rolle gespielt haben. Die Orthodoxie interessierte sich in ihrer ganzen Haltung nicht für das Diesseits und für die Lösung der konkreten Probleme der Lebenswirklichkeit.
    Das dritte Moment, das hier ins Spiel kommt, ist die Haltung gegenüber Eigentum und Besitz. Es gab in der Dorfgemeinschaft kein Privateigentum, sondern – verkürzt gesagt – aller Besitz war Gemeinbesitz, der in regelmäßigen Abständen umverteilt wurde, um die Bodenstücke der sich verändernden Zahl der Familienmitglieder anzupassen. So hat sich kaum eine feste Beziehung zum Besitz ausbilden können. »Die Bande des Eigentums sind in keinem Lande der Welt schwächer und beweglicher als in Russland«, meinte ein so genauer Beobachter des russischen Lebens im 19. Jahrhundert wie Baron von Haxthausen.
1860 bis 1914: Das große Aufholen
    Es ist daher kein Wunder, dass erst mit der Auflösung der Leibeigenschafts- und Gutsbesitzerwirtschaft ein Raum entstand, in dem sich moderne Verhältnisse entwickeln konnten. Die Bauern waren nun frei, sie konnten abwandern und ihr Geld in den Städten verdienen. Die dominierende Stellung der Dorfgemeinschaft war erschüttert. Es bildete sich zunehmend eine Schicht von tüchtigen, wohlhabenden Bauern heraus, die in vielen Fällen, meist in der zweiten oder dritten Generation, zu jenen Unternehmern und self-made men wurden, die die Industrialisierung in Russland betrieben und Eisenbahn, Flussschifffahrt, Eisenwerke oder die Ölindustrie schufen. Einen besonders hohen Prozentsatz unter diesen Unternehmern stellten dabei die Altgläubigen, eine Sekte, die sich im 17. Jahrhundert von der orthodoxen Kirche abgespalten hatte und die in Russland fast eine Rolle spielte, die in vielem der der Juden oder Puritaner im westlichen Geschäfts- und Wirtschaftsleben entsprach.
    Die Jahrzehnte zwischen 1860 und 1914 werden – das hat Theodor von Laue in seiner Studie zum hervorragendsten Modernisierer des späten Zarenreiches, Sergei Witte, gezeigt – so zu Jahrzehnten eines stürmischen take-off . 1 Ein Land mit den höchsten industriellen Zuwachsraten, mit eindrucksvollem Wachstum der Städte, mit einer demographischen Revolution – der russische Universalgelehrte Dmitri Mendelejew sah 1906 für die Mitte des 20. Jahrhunderts eine Bevölkerung Russlands von rund 400 Millionen voraus. Eine fieberhafte Blüte von Wissenschaft, Kunst, Literatur und Musik setzte ein – man nannte es das »Silberne Zeitalter«. Wenn Russland je eine Weltmacht der Kultur war, dann um 1900. Russland holte in einem atemberaubenden Tempo auf, übernahm, eignete sich an, lernte, bildete eine moderne, dann auch gutorganisierte Arbeiterklasse aus, Tausende von jungen Leuten gingen ins Ausland zum Studium – alles Phänomene, die ein wenig an das erinnern, was heute in China passiert. Wenn diese Entwicklung abbrach, dann nicht, weil der Boom im Russischen Reich zu Ende gewesen oder

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