Grenzland Europa: Unterwegs auf einem neuen Kontinent (German Edition)
vermutlich nicht abginge; das Optimum ist: sich erst einmal die Geschichten anzuhören, sich einzuhören und ruhig und gelassen zu bleiben. Das ist schwierig genug. Das betrifft im Übrigen nicht nur die Deutschen. Wir sind nicht die Einzigen, die »ihren Osten« verloren haben. Auch die Polen haben ihre Verlustgeschichten, sie noch mehr als die Deutschen. Ihr Nationalepos beginnt immerhin mit Adam Mickiewiczs Invokation »Litwo! Ojczyzno moja! ty jesteś jak zdrowie«. O Litauen, meine Heimat, und wohl niemand käme auf die Idee, darin einen Aufruf zum Revisionismus zu sehen. Aber auch die Russen, die Ersten unter Gleichen im einstigen Sowjetimperium, haben zu Millionen die Landschaften ihrer Vorfahren, ihrer Eltern, hinter sich lassen müssen. Taschkent, Tbilissi, Kiew, Vilnius sind jetzt Zentren eigener Staaten, man muss sich schicken in die postimperiale Situation, auch dies ein Heimatverlust im Europa des 20. Jahrhunderts. Sie alle mussten lernen, damit irgendwie umzugehen und damit fertig zu werden.
Das Heraustreten aus den nationalen Narrativen ist nicht notwendig, weil es eine politische Korrektheit von uns verlangt, sondern weil es die angemessenste Weise ist, mit einer Geschichte umzugehen, die über die nationalen Grenzen hinausgeht und sich in national beschränkten Narrativen allein nicht erzählen lässt. Dass das nicht einfach ist, wissen wir aus eigener Erfahrung, wenn wir uns daran erinnern, wer alles – sowohl auf deutscher wie polnischer Seite – die Sache der Vertriebenen zu monopolisieren und zu instrumentalisieren versucht hat – besonders dann, wenn es auf Wahlkämpfe zugeht und die Vergangenheit zum Ersatzschauplatz im Parteienkampf gemacht wurde. Oft sah es so aus, als könnte die Öffnung und Normalisierung, die 1989 eingeleitet worden war, jederzeit in diesem Clinch wieder in Frage gestellt und rückgängig gemacht werden.
Heinrich Hoffmann von Fallersleben, da bin ich sicher, wäre heute als der unabhängige, rebellische und mobile Geist auf der Seite derer, die neue Wege aus einer abgelaufenen, zu eng gewordenen und von bürokratischen Hindernissen verstellten Welt gegangen, und das heißt: in das neue Europa mitgegangen wären. Er, der Mann mit der Nase für verschwundene Handschriften und seltene Quellen, wäre längst überallhin unterwegs in die nun zugänglichen Archive und Bibliotheken und hätte gewiss die phantastischsten Funde gemacht und umgehend ediert. Er, der gelernt hatte, geschickt Polizeiagenten und Spitzel zu überlisten, der Erfahrung darin hatte, wie man mit Passbescheinigungen und beschränkten Aufenthaltsgenehmigungen umging, hätte schon in Zeiten des Kalten Krieges versucht, den Eisernen Vorhang zu unterschreiten, und wäre erst recht jetzt, seit die Grenzen verschwunden sind, überall unterwegs im neuen Europa. Die staatlichen Behörden hätten ihm kaum folgen können auf seinen schnellen und geheimnisvollen Wegen, auf denen er Verbindung aufgenommen hätte mit den oppositionellen und dissidentischen Milieus, die in unserer Zeit Charta 77, KOR , Solidarność, Helsinki-Komitee für Menschenrechte hießen. Er, der Verfasser von Flugschriften, unpolitischen Gedichten und Autor mehrfach verbotener Verlage, hätte sich inmitten der Samizdat-Literatur und der Untergrundpresse unter seinesgleichen gefühlt. Er hätte, wo immer er als Sänger aufgetaucht wäre – auf einem Platz, einem Bahnhof, in einem Wirtshaus –, für Menschenaufläufe gesorgt. Mit einem Tempo war er unterwegs in deutschen Landen und darüber hinaus, das einem von ICE und Flugzeug verwöhnten Bewohner 150 Jahre später noch immer unbegreiflich und rätselhaft vorkommt. Mehrere 1000 Kilometer legte er in wenigen Monaten zurück – in Postkutschen, Dampfschiffen und später in unerhörter Beschleunigung in der Eisenbahn. So reiste er, von Fallersleben ausgehend, in immer weiter ausgreifenden Radien: nach Helmstedt und Göttingen, bald nach Bonn, Leyden, Berlin und Breslau und später und immer wieder in alle großen Städte Europas: Wien, Prag, Florenz, Rom, Paris, Kopenhagen, in die Schweiz, nach Basel und Straßburg. Nie finden wir von ihm Beschreibungen dessen, was er gesehen hat – meist sind es nur abfällige Bemerkungen –, fast immer geht es um ihn selbst, seine Lieder, ihre Resonanz, auch geschäftlichen Erfolg und letztlich: um Geselligkeit. Heinrich Hoffmann von Fallersleben ist der Produzent eines Raumes der Geselligkeit mit sich selbst als der Hauptperson, was nicht weniger
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